Johannesevangelium
Geheimnisvolles Johannesevangelium
Das Johannesevangelium unterscheidet sich deutlich von den anderen drei Evangelien. Während Matthäus und Lukas ziemlich genau der Markus-Struktur folgen, bis hin zur wörtlichen Übernahmen vieler Passagen (und deshalb „Syn-optiker“ - ="Zusammenseher" heißen), geht das Johannesevangelium da einen eigenen Weg.
Stellen wir uns vor, ein Besucher bei den Johannesgemeinden in Kleinasien möchte mehr über die Besonderheiten dieses Evangeliums erfahren. Ob das Gespräch vielleicht so hätte verlaufen können?
1.Teil: Zur Entstehung
Besucher: Liebe Brüder und Schwestern der Johannes-Gemeinden. Ich möchte gerne mehr erfahren über euer Verständnis von Jesus Christus und der christlichen Gemeinde - und ganz besonders über euer Evangelium, das so ganz anders ist als die anderen drei, die ich kennengelernt habe, das von Markus, Matthäus und Lukas. Während die anderen drei sehr viel gemeinsam haben, vermisse ich das bei eurem Buch. Viel mir inzwischen Bekanntes taucht da überhaupt nicht auf, und Vieles ist hier ganz neu für mich.
Reflexion 1: Was ist im Johannesevangelium auf den ersten Blick anders?
Welche Texte sind neu, welche tauchen bei ihm nicht mehr auf?
Neu: Prolog (Eingangskapitel); Hochzeit zu Kana; Tempelreinigung wird schon in Kap.2 berichtet; Jesus und Nikodemus; Jesus und die Samariterin; Heilung am Teich Betesda; Jesus und die Ehebrecherin; Heilung eines Blindgeborenen; Auferweckung des Lazarus; Fußwaschung; Maria von Magdala und Thomas begegnen dem Auferstandenen.
Nicht aufgenommen: Viele Heilungsgeschichten (v.a. Dämonenaustreibungen); alle Gleichnisse; Bergpredigt, Einsetzung des Abendmahls
Besucher: Über welche Überlieferungen sei ihr eigentlich zu eurem Evangelium gekommen?
Johannes: Viele sind ja immer noch der Meinung, das Evangelium wurde von dem Jesusjünger Johannes verfasst und wäre somit das älteste aller Evangelien.
Besucher: Na ja, manche Stellen legen das ja nahe: etwa wenn da so ausführlich von Johannes als dem Lieblingsjünger Jesu die Rede ist, Und statt eines Vorworts gibt es hier ein Nachwort, das auch nahe legt, dass einer, der selbst dabei war, aus der Fülle seiner persönlichen Erlebnisse das Wichtigste aufgeschrieben hat. Aber das kann ja wohl nicht sein: knapp 100 Jahre nach Jesu Geburt kann keiner mehr aus eigener Erinnerung aufgeschrieben haben.
Reflexion: Das Nachwort
19,35: Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiß, dass er die Wahrheit sagt, damit auch ihr glaubt.
20,30f: Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.
Johannes: Du hast uns als Verfasser mit Recht im Plural angesprochen. Wir, der Johanneskreis, können von einem interessanten Entstehungsprozess dieses Evangeliums erzählen.
Reflexion 3: Die Entstehungsgeschichte
Die ntl. Forschung hat den Entstehungsprozess dieses Evangeliums – grob gesehen – in drei Schichten beschrieben:
1.Schicht: Überlieferungsgut, das der „Lieblingsjünger“ einbrachte - Wundererzählungen der „Semeia-Quelle“ (einer anderen Überliefe-
rungstradition von Worten Jesu, als sie den anderen Evangelisten zur Verfügung stand), Passionsgeschichte
2.Schicht: Evangelienschrift des hellenistisch-jüdischen Theologen aus der johanneischen Schule
3.Schicht: Redaktion, vorgenommen in der johanneischen Schule, in der sich die Situation der Johannesbriefe des Neuen Testaments spiegelt
2. Teil: Jesus Christus, der Erlöser
Besucher: Fangen wir doch gleich einmal beim Nachwort an: Es geht darum, wer Jesus Christus ist, nämlich der Sohn Gottes. Das hat ja auch schon der Evangelist Markus in seinem Vorwort so geschrieben: Das ist das Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Er lässt den Hauptmann unter dem Kreuz sagen: „Wahrlich, das ist Gottes Sohn gewesen“. Und bei euch sagt der Zweifler Thomas: „Jesus Christus, mein Herr und mein Gott!“ Was ist das Besondere des Bekenntnisses zu Jesus Christus in eurem Evangelium?
Johannes: Grundsätzlich geht es uns natürlich um denselben Glauben an Jesus Christus. Aber wir denken ihn in einer viel größeren Weite als Markus. Dort ist Jesus mit seiner Taufe gewissermaßen zum Sohn Gottes berufen und ernannt worden. Wir sehen das dagegen in einer geradezu kosmischen Dimension: Jesus war von Ewigkeit her bei Gott. Und Gott hat ihn auf die Welt geschickt, um diejenigen, die an ihn glauben, von der Macht der Sünde und des Bösen zu erlösen. So wurde der Gottessohn Mensch und nach seiner Erlösungstat wieder mit seiner Auferstehung zu Gott erhoben. Wir führen in unserem Evangelium damit konsequent aus, was das Christuslied im Philipperbrief des Paulus so formuliert hat:
“Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“
Besucher: Ich möchte euch keineswegs bestreiten, dass ihr auf dem Boden unseres gemeinsamen Glaubens steht, und die Nähe zum Christushymnus im Philipperbrief ist auch überzeugend. Aber die Erlösungstheologie, die in eurer Jesus-Geschichte breit entfaltet wird, schmeckt die nicht zu sehr nach gnostischer Religiosität? Da wurde die Welt vom Demiurgen, dem Antischöpfer ins Gegenteil verkehrt, wurde zum Reich der Finsternis. Aber Gott hat eine göttliche Lichtgestalt in die Welt geschickt, um in den Menschen das spirituelle Licht der Güte Gottes neu zu entzünden. Das ist aber doch esoterische Geheimreligion, vergeistigt und körperfremd, das hat doch nichts mit unserem Christusglauben zu tun!
Johannes: Lass uns das genauer ansehen. Zum einen ist zu sagen: Die Welt hungert nach der Erlösung vom Bösen. Dazu haben wir als Christen viel zu sagen. Das können und wollen wir doch nicht allein den Mysterienkulten überlassen, die so großen Einfluss gewonnen haben! Zum anderen: Wir stehen durchaus in der biblisch-jüdischen Tradition. Die spricht von der Weisheit Gottes personifiziert als eigenständige Person, der Sophia, die seit Ewigkeit bei Gott ist - wie es schon im Schöpfungsbericht heißt: „Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern“. Und diese Weisheit, dieser Logos, dieses „Wort Gottes“, das ist in Jesus Mensch geworden.
3. Teil: Jesus Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott
Johannes: Und nun kommt zum dritten das für unseren Glauben Besondere: Dieses Licht der Welt erscheint gerade nicht als ein bloßes spirituelles Erlebnis, als bloße Geistigkeit, sondern wird durch und durch Mensch. Wir haben da auch das deutlichste Wort gewählt: nicht nur Körper, Leib, sondern „Fleisch“. Die Weisheit Gottes wurde in Jesus Christus Fleisch und Blut. Das war uns wichtig. Und so erzählen wir den Weg Jesu. Jesus war durch und durch Gott und genauso auch Mensch – eine für uns Menschen unauflösliche Dialektik.
Besucher: Und mit dieser Dialektik werdet ihr wohl Jahrtausende lang die Theologie beschäftigen, wie denn der geheimnisvollen Zusammenhang der göttlichen und menschlichen Naturen in Jesus Christus zu denken sei. Wird dadurch unser Glaube nicht unnötig kompliziert?
Johannes: Was wäre die Alternative? Diese universale kosmische Weite fahren zu lassen und Jesus auf einen von Gott begnadeten Menschen zu reduzieren? Das wollen wir nicht! Auf der anderen Seite gebe ich schon zu, dass die Missverständnisse zum göttlichen und menschlichen Wesen Jesu Christi schon inmitten unserer Gemeinde angefangen haben. Da gibt es welche, die unseren Ansatz gewissermaßen mit Markus bzw. Lukas kombinieren und sagen, bei der Taufe Jesu sei der Mensch Jesus vergöttlicht worden, da habe ihn die göttliche Natur gleichsam durchdrungen.
Besucher: Mir ahnt schon, wie es weitergeht: Und vor dem Tod Jesu hat die göttliche Natur den Körper wieder verlassen und ist zu Gott zurückgekehrt. Damit wird der hässliche Gedanke umgangen, dass Gott stirbt.
Johannes: Nein - darauf kommt es uns ja gerade an, dass Jesus Christus als Mensch und Gott das ganze Erlösungswerk bis in den Tod hinein vollbringt. Von Anfang an ist er beides, und auch als Auferstandener zeigt er sich so.
Reflexion: Jesus Christus und die sog. Zwei-Naturen-Lehre
Sie geht von der Überzeugung aus, dass sich in der Person Jesu eine menschliche und eine göttliche Natur auf geheimnisvolle Weise verbunden haben, und zwar vom Jenseits aller Zeit her bis in Ewigkeit. So finden wir es auch im Nicänischen Glaubensbekenntnis formuliert:
„Wir glauben an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen.
Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel.
Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein.“
4. Teil: Wie sich Jesu Doppelnatur als Mensch und Gott in seinem Wirken zeigt
Besucher: Jetzt beginne ich zu verstehen: In eurem Evangelium zeichnet ihr den Weg Jesu unter diesem Vorzeichen der beiden Naturen nach. Das ist wirklich neu. Da bin ich doch sehr gespannt darauf, genauer hinzusehen, wie im Leben Jesu diese beiden Naturen ständig präsent sind, wie sich also der Ausgangssatz, dass der göttliche Logos Fleisch wird, im Leben und Wirken Jesu entfaltet.
Johannes: Das erste Wunder, das wir erzählen, ist das Weinwunder von Kana. Das ist wirklich keine spirituelle Lichterfahrung der Beteiligten, sondern etwas ganz Handfestes und Körpernahes. Es geht um den Weingenuss, so wie es auch die Griechen von ihrem Gott Bacchus erzählen. Aber in diesem Geschehen offenbart sich schon die göttliche Herrlichkeit Jesu: „Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat, geschehen in Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn“.
Die Wunder Jesu haben in unserem Evangelium alle dieses Doppelgesicht. Es geht um ganz konkrete körperhafte Zuwendung zu den Menschen, von Mensch zu Mensch, aber in ihr spiegelt sich zugleich die göttliche Sendung Jesu in die Welt - eben das, was sich nicht konkret beschreiben lässt, sondern was geheimnisvoll-gleichnishaft aufscheint. So steht die Blindenheilung für Jesus als das Licht, das in die Welt gekommen ist. Die Speisung der 5000 steht für das Lebensbrot, das Jesus für uns ist, die Auferweckung des Lazarus für Jesus als das Leben schlechthin. Körperhaft-Menschliches und Göttliches der Sendung Jesu vom Himmel auf die Erde fließen da ständig ineinander.
Reflexion: Die beiden Naturen Jesu Christi im Reden und Wirken Jesu – am Beispiel der Speisungsgeschichte
6, 22-38: Am nächsten Tag sah das Volk, das am andern Ufer des Sees stand, dass kein anderes Boot da war als das eine und dass Jesus nicht mit seinen Jüngern in das Boot gestiegen war, sondern seine Jünger waren allein weggefahren. Es kamen aber andere Boote von Tiberias nahe an den Ort, wo sie das Brot gegessen hatten unter der Danksagung des Herrn. Als nun das Volk sah, dass Jesus nicht da war und seine Jünger auch nicht, stiegen sie in die Boote und fuhren nach Kapernaum und suchten Jesus. Und als sie ihn fanden am andern Ufer des Sees, fragten sie ihn: Rabbi, wann bist du hergekommen?Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid. Schafft euch Speise, die nicht vergänglich ist, sondern die bleibt zum ewigen Leben. Die wird euch der Menschensohn geben; denn auf dem ist das Siegel Gottes des Vaters.
Da fragten sie ihn: Was sollen wir tun, dass wir Gottes Werke wirken? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. Da sprachen sie zu ihm: Was tust du für ein Zeichen, damit wir sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du? Unsre Väter haben in der Wüste das Manna gegessen, wie geschrieben steht (Psalm 78,24): »Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen.« Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot.
Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. Aber ich habe euch gesagt: Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht. Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.
Besucher: Spiegelt sich diese geheimnisvolle Doppelseitigkeit des Wesens und Wirkens Jesu auch in der Passionsgeschichte? Das ist ja dann für die Jesus-Geschichte die wohl größte Herausforderung.
Johannes: Ja durchaus. Jesus erfährt die tiefste Demütigung und bleibt doch der königliche Gottessohn. Das zeigt sich vor allem in dem Verhör vor Pilatus, das gleichsam die Mitte der Passionserzählung ist:
Jesus Christus in der Passionsgeschichte
Kap.18, 1ff. Als Jesus das geredet hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern über den Bach Kidron; da war ein Garten, in den gingen Jesus und seine Jünger. Judas aber, der ihn verriet, kannte den Ort auch, denn Jesus versammelte sich oft dort mit seinen Jüngern. Als nun Judas die Schar der Soldaten mit sich genommen hatte und Knechte von den Hohenpriestern und Pharisäern, kommt er dahin mit Fackeln, Lampen und mit Waffen.
Da nun Jesus alles wusste, was ihm begegnen sollte, ging er hinaus und sprach zu ihnen: Wen sucht ihr? Sie antworteten ihm: Jesus von Nazareth. Er spricht zu ihnen: Ich bin's! Judas aber, der ihn verriet, stand auch bei ihnen. Als nun Jesus zu ihnen sagte: Ich bin's!, wichen sie zurück und fielen zu Boden.
Da fragte er sie abermals: Wen sucht ihr? Sie aber sprachen: Jesus von Nazareth. Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Sucht ihr mich, so lasst diese gehen! Damit sollte das Wort erfüllt werden, das er gesagt hatte: Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast....
Der Hohepriester befragte nun Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. Jesus antwortete ihm: Ich habe frei und offen vor aller Welt geredet. Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und im Tempel, wo alle Juden zusammenkommen, und habe nichts im Verborgenen geredet. Was fragst du mich? Frage die, die gehört haben, was ich zu ihnen geredet habe. Siehe, sie wissen, was ich gesagt habe. Als er so redete, schlug einer von den Knechten, die dabeistanden, Jesus ins Gesicht und sprach: Sollst du dem Hohenpriester so antworten?Jesus antwortete: Habe ich übel geredet, so beweise, dass es böse ist; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich? Und Hannas sandte ihn gebunden zu dem Hohenpriester Kaiphas....
Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und fragte ihn: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben dir's andere über mich gesagt? Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt. Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
5. Teil: Gottes Liebe
Besucher: Es ist ja auch sehr anrührend, aber gleichzeitig auch ziemlich unwirklich, wie Jesus in seinem Todeskampf am Kreuz zugleich fürsorglich an die Zukunft der ihm am nächsten stehenden Menschen denkt, an seine Mutter und an seinen Lieblingsjünger.
Johannes: Ja, so wie Jesus immer von Gottes Liebe sprach, so hat er sie auch bis zuletzt praktiziert. Unsere theologischen Gedanken kreisen ja ganz zentral um Gottes Liebe. Sie zeigt sich primär darin, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat. Und sie ist dann zugleich auch die Aufforderung, sie in unseren Gemeinden auch tatkräftig zu praktizieren.
Besucher: Da fällt mir übrigens auf, dass in den drei Johannesbriefen, die ja für eure Gemeinden geschrieben sind, auch das Reden von Gottes Liebe eine so große Rolle spielt. In diesen Briefen wird auch deutlich, wie sehr ihr euch angesichts eurer internen theologischen Streitigkeiten nach Versöhnung und geschwisterlich-liebevollem Miteinander sehnt.
Johannes: Das ist ja auch ein Grund dafür, warum uns der Glaube an den durch Gottes Liebe in die Welt gesandten Gottessohnes so wichtig ist. Um selbst zu gegenseitigem liebevollen Umgang zu finden, richten wir uns an Gottes Liebe aus, finden sie in Jesu Worten und deren Auslegung, auch in der leidenschaftlichen Bitte um die Einheit des Glaubens. Deswegen haben auch im Rahmen der Passionserzählung die Abschiedsreden Jesu von seinen Jüngern so großes Gewicht.
Bibeltexte: Gottes Liebe und das Miteinander in der Gemeinde
1. Joh.2,7ff. Meine Lieben, ich schreibe euch nicht ein neues Gebot, sondern das alte Gebot, das ihr von Anfang an gehabt habt. Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. Und doch schreibe ich euch ein neues Gebot, das wahr ist in ihm und in euch; denn die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt. Wer sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und durch ihn kommt niemand zu Fall. Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht; denn die Finsternis hat seine Augen verblendet.
Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. 16 Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt.
3,18: Meine Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten und mit dem Munde, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.
4,7ff. Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. 8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe... Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. hr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben.
17,1ff: So redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da: verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche; denn du hast ihm Macht gegeben über alle Menschen, damit er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.
Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast. Ich bitte für sie und bitte nicht für die Welt, sondern für die, die du mir gegeben hast; denn sie sind dein.Und alles, was mein ist, das ist dein, und was dein ist, das ist mein; und ich bin in ihnen verherrlicht. Ich bin nicht mehr in der Welt; sie aber sind in der Welt, und ich komme zu dir.
6. Teil: Licht des Glaubens in der Finsternis der Welt
Besucher: Allerdings sehe ich in all dem schon eine Gefahr: Nach eurer Theologie kam Jesus als Licht in die Finsternis der Welt. Und in der Nachfolge dieses Gottessohns habt ihr den Anspruch, als Kinder des Lichts der feindlichen, dunklen Welt gegenüberzustehen. Zeichnet sich da nicht ein gefährliches Schwarz-Weiß-Denken ab? Ihr habt zwar dem gnostischen Erlösungsmythos widerstanden, aber nicht der Abschottung von der Welt als der feindlichen Macht der Finsternis.
Johannes: Wir setzen da ganz bewusst unseren Akzent, der uns Christen davor bewahren soll, in der Welt aufzugehen, weltlich zu werden, unsere Identität als Gemeinschaft in Glaube, Liebe und Hoffnung zu verlieren. Wir werden doch auch in Zukunft immer wieder gefragt werden, was uns von der Welt unterscheidet, was unser Markenzeichen sein soll.
Besucher: Aber das Risiko, bloß in Abgrenzungen zu denken und zu leben, das bleibt. Ich denke da z.B. auch daran, wie sehr in eurem Evangelium die Juden mit der Welt gleichgesetzt werden und dies zu bösen Etikettierungen führt. Bei Matthäus hat diese Abgrenzung von den Juden schon ihre Kreise gezogen, aber mit dem Gegensatz von Licht und Dunkelheit wird das ja noch viel schlimmer. Wollt ihr das wirklich – auch wenn euch zugestanden sei, dass vielleicht die Abgrenzung von den jüdischen Gemeinden für euch noch eine größere Herausforderung ist als für die Gemeinden des Matthäus?
Reflexion: Abgrenzung von den Juden im Johannesevangelium
Einerseits: Joh.4,22: Das Heil kommt von den Juden; Jesu Gespräch mit Nikodemus.
Andererseits: Die Theologie des Gottgesandten verschärft den Konflikt: Dramatisch fordern die Juden Jesu Verurteilung;
Joh 8,21-45: Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Ich gehe hinweg und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen. Da sprachen die Juden: Will er sich denn selbst töten, dass er sagt: Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen?Und er sprach zu ihnen: Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. Darum habe ich euch gesagt, dass ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden.
Da fragten sie ihn: Wer bist du denn? Und Jesus sprach zu ihnen: Zuerst das, was ich euch auch sage. Ich habe viel von euch zu reden und zu richten. Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt. Sie verstanden aber nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach. Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt.
Als er das sagte, glaubten viele an ihn. Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.
Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.
Ich weiß wohl, dass ihr Abrahams Kinder seid; aber ihr sucht mich zu töten, denn mein Wort findet bei euch keinen Raum. 38 Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe; und ihr tut, was ihr von eurem Vater gehört habt. Sie antworteten und sprachen zu ihm: Abraham ist unser Vater. Spricht Jesus zu ihnen: Wenn ihr Abrahams Kinder wärt, so tätet ihr Abrahams Werke. Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit gesagt hat, wie ich sie von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan. Ihr tut die Werke eures Vaters.
Da sprachen sie zu ihm: Wir sind nicht unehelich geboren; wir haben einen Vater: Gott. Jesus sprach zu ihnen: Wäre Gott euer Vater, so liebtet ihr mich; denn ich bin von Gott ausgegangen und komme von ihm; denn ich bin nicht von selbst gekommen, sondern er hat mich gesandt. Warum versteht ihr denn meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt! Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er Lügen redet, so spricht er aus dem Eigenen; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge. Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht.
6. Teil: Ewiges Leben - schon jetzt
Besucher: Ihr habt eine sehr anspruchsvolle Theologie von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, entwickelt. Und ihr habt sehr anspruchsvolle Ziele für euer Zusammenleben im Zeichen der Liebe. Was der Evangelist Lukas in die Weite der wachsenden Christenheit in alle Welt hinein entfaltet hat, das habt ihr gewissermaßen im Innenleben, in den Binnenzirkeln eurer Gemeinden verdichtet.
Johannes: Damit ist es uns ernst. Jesus hat gesagt: Wer an mich glaubt und meinen Worten folgt, der hat schon jetzt das ewige Leben, der hat schon jetzt die finstere Macht des Todes überwunden.
Besucher: Könnt ihr denn solch einen hohen Anspruch überhaupt durchhalten?
Johannes: Nun ja, ich muss zugeben, dass wir uns auch da korrigieren mussten. Hier ist eben doch noch nicht das ewige Leben, das Himmelreich auf Erden. Es galt für uns auch die Gefahr der Schwärmerei zu vermeiden.
Reflexion: Präsentische und futurische Eschatologie
Aussagen, dass in der Gemeinschaft der an Jesus Christus Glaubenden das ewige Leben schon da ist, stehen in Spannung zu anderen, wonach das ewige Leben mit der Auferstehung von den Toten beginnt,
Joh 5,24f.Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.
Joh.5,28f. Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.
Besucher: Manchmal habe ich ja schon den Eindruck, dass ihr Johannesgemeinden nicht so recht in die Entwicklung der Kirche passt, wie sie etwa Matthäus mit dem gewissen Führungsanspruch des Apostels Petrus und Lukas mit der Wirkung des Apostel Paulus beschrieben hat. Der Lieblingsjünger Johannes bleibt dem gegenüber in vornehmer Zurückhaltung, tritt als Apostel eigentlich gar nicht in Erscheinung.
Johannes: Das mag durchaus so sein. Unsere Theologie entfaltet sich viel weniger sozusagen kirchenamtlich, als im tiefgründigen Nachdenken über den Glauben an Jesus Christus.
Reflexion: Petrus und Johannes
In Joh 20, das die neutestamentliche Forschung als eine später angefügte Ergänzung an das Johannesevangelium erkannt hat, ist ein gewisser Wettstreit zwischen Petrus und Johannes nicht zu übersehen.
Joh 20: Da ging Petrus und der andere Jünger hinaus und sie kamen zum Grab. Es liefen aber die zwei miteinander und der andere Jünger lief voraus, schneller als Petrus, und kam zuerst zum Grab, schaut hinein und sieht die Leinentücher liegen; er ging aber nicht hinein. Da kam Simon Petrus ihm nach und ging in das Grab hinein und sieht die Leinentücher liegen, aber das Schweißtuch, das Jesus um das Haupt gebunden war, nicht bei den Leinentüchern liegen, sondern daneben, zusammengewickelt an einem besonderen Ort. Da ging auch der andere Jünger hinein, der zuerst zum Grab gekommen war, und sah und glaubte. Denn sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er von den Toten auferstehen müsste. Da gingen die Jünger wieder heim.
Besucher: Dass diese Theologie ihre Kreise ziehen wird, das kann ich mir gut denken. Trotz all der Einwände, wie sehr sie sich an den Realitäten unserer Welt reibt und zu kritischem Nachfragen und Weiterdenken zwingt, so ist sie doch eine schier unerschöpfliche Quelle tiefgründiger theologischer Gedanken und einer Frömmigkeit, die um das göttliche Geheimnis kreisen, die ihresgleichen sucht, wie ein Brunnen der spirituellen Weisheit des Glaubens.
Johannes: Ja, eben weil Jesus Christus für uns die Quelle des Lebens ist, das Licht der Welt, der Weinstock, an dem wir die Reben sind, der gute Hirte, der uns leitet, die Tür zur Wahrheit.