Steckbrief Hinduismus

Mit dem Blick auf den Hinduismus tauchen wir in eine völlig andersartige religiöse Welt ein, als wir es von den bisher vorgestellten Religionen gewohnt sind. Der Hinduismus kennt keinen Religionsstifter, keine religiösen Institutionen, keine regelmäßigen Gottesdienste, keine einheitliche Glaubenslehre. Statt dessen begegnet uns eine Fülle an heiligen Schriften, eine vielfältige Götterwelt, die von Naturheiligtümern bis zu abstrakten Vorstellungen von einem göttlichen Urprinzip reicht. Das alltägliche Leben ist von der Sphäre des Göttlichen durchpulst, in den alltäglichen Verrichtungen begegnet das Heilige mit den ihm angemessenen Handlungsweisen. In kaum vorstellbarer Weite stehen die unterschiedlichen religiösen Vorstellungen nebeneinander, ohne einander verdrängen zu wollen.

 

Hinduistische Kinder und Eltern begegnen uns wohl eher selten in der Kindertagesstätte. Aber es ist für Erzieherinnen und Erzieher wichtig, bei der Beschäftigung mit anderen Religionen auch einen Blick auf die fernöstliche religiöse Welt zu werfen, die so ganz anders ist als unsere christlich geprägten Vorstellungen von Religion und dabei auch auf die nach Christentum und Islam drittgrößte Weltreligion mit ca. 750 Millionen Anhängern.

 

Das Wort Hindu stammt vom Fluss „Sindhu“ bzw. Indus und kennzeichnet ursprünglich das Land östlich von ihm, später den ganzen Subkontinent Indien. Als auch Christentum und Islam ins Land kamen, wurde mit dem Namen Hinduismus die indische Religionswelt von ihnen unterschieden. Auch heute noch sind über 80% der Inder Hindus, und Anhänger des Hinduismus finden sich fast nur in Indien.

 

Götterwelt

 

Göttliches und Menschliches sind nicht scharf voneinander getrennt. Bedeutende Menschen wie hoch angesehene Brahmanen mit ihren priesterlichen Funktionen können Verehrung als Götter genießen, und auch die Götter insgesamt sind dem Kreislauf der Wiedergeburten unterworfen. In Flüssen und Bäumen, in Bildern und Gegenständen können Götter präsent sein, und den überlieferten Mythen wird ganz menschlich von Göttergestalten erzählt. Sie erscheinen in Götterfamilien geordnet als auch in vielfachen Wiederverkörperungen einzelner Götter. Die Zahl der Götter ist unendlich, manche sprechen von 330 Millionen. Aus dieser Vielzahl hat sich eine Dreiergruppe als Hochgötter herausgebildet, die ihre jeweiligen Verehrerkreise haben, die aber auch in einer Gestalt zusammengefasst erscheinen können: Brahma, der Schöpfer des Lebens, Vishnu, dessen Erhalter und Shiva, der Zerstörer. Brahma hat heute nur noch wenige Anhänger. Vishnu hat sich gewissermaßen aus kleinsten Anfängen im Laufe der Zeit die Spitzenstellung in der Götterwelt gewonnen, als Gott der Güte, der in vielerlei Gestalt, auch in Tiergestalten, auf der Erde erschienen ist. Shiva ist in Extremen gekennzeichnet, als Verbreiter von Katastrophen und Schrecken – sein Äußeres ist oft schauerlich dargestellt – und auch als Helfer auf dem Erlösungsweg. Seine Anhänger bilden die zweitgrößte Gruppe im Hinduismus. Den weiblichen Aspekt verkörpern die den Göttern zugeordneten Göttinnen. In Krishna verehren dessen Anhänger den persönlichen Gott, der all die anderen göttlichen Erscheinungsweisen in sich aufgenommen hat. In Liebe wendet er sich den Menschen zu, und die antworten entsprechend. Und jenseits der konkreten Göttergestalten denken viele mehr philosophisch einen göttlichen Urgrund der Welt und alles menschlichen Daseins, das Brahman.

 

Überall begegnen die Göttergestalten als Ausdruck der persönlichen Beziehung zu ihnen: zu Hause in der Andachtsecke, wo zu den Gebeten Räucherstäbchen entzündet werden und dem Gott bzw. der Göttin, denen sich die Familien verbunden weiß, Blumen und Speisen dargebracht werden. Die Menschen sind die Gastgeber ihrer Götter, begrüßen sie täglich liebevoll, baden sie und reiben sie mit duftenden Ölen ein. Jede Mahlzeit wird zuerst vor das Götterbild getragen – all das in der Erwartung, dass sich die Götter dafür auch erkenntlich zeigen werden. Die Götterbilder werden auch in den Tempeln und dort auf ganz individuelle Weise verehrt, meditierend oder laut singend und tanzend. Nur an den großen Festtagen finden Gottesdienste und dabei auch große Prozessionen statt.

 

Darüber hinaus ist die ganze Natur heilig. Was der Mensch von ihr bekommt, sind Geschenke der Götter – die Verehrung der Kuh als heiliges Wesen ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Und das gilt schließlich auch für die Gegenstände des täglichen Gebrauchs, vom Schraubenzieher bis zum Bügeleisen, die täglich neu in kleinen Gesten gesegnet werden. Zu dieser göttlichen Sphäre gehört auch die Sternenwelt. Vor schwierigen Entscheidungen werden die Astrologen befragt. Der Zusammenhang von Einzelschicksal und Kosmos wird auch spürbar, wenn Handlinien gedeutet und persönliche Edelsteine und Mineralien am Körper getragen werden.

 

Ältester Bestand der heiligen Schriften sind die (kaum noch bekannten) Veden, uralte Mythen mit Anweisungen für Priesterämter und Opferkult, aus der Zeit im 1500 v.Chr. Jüngere Texte sind die Upanishaden mit mystischen Weisheiten über die Geheimnisse der Welt. Viel volkstümlicher sind ihnen gegenüber die Epen Ramayana und Mahabharata mit mythischen Erzählungen aus der Welt der Götter. Früher wurden sie in den Dörfern von Berufserzählern vorgelesen und heute werden sie in groß angelegten Projekten verfilmt. Zum Umgang mit den heiligen Schriften gehört auch, einzelne Silben, Worte, Sätze (Mantras) immer wieder laut zu rezitieren, auch wenn ihr Sinn nicht verständlich ist.

 

Leben

 

Noch heute gilt den meisten Hindus das Hineingeboren-Werden in die jeweilige Kaste und die mit ihr vorgegebenen Lebensordnung als göttlicher Wille. Hindu ist man durch solche Zugehörigkeit, durch die man von anderen Kasten streng geschieden ist. Wer den Hinduismus verlässt, verliert auch seine Zugehörigkeit zur Kaste und damit seine gesellschaftliche Einbindung. Die vier Kasten der Priester, der Krieger und Adligen, der Bauern, Handwerker und Handelsleute, der Diener und Sklaven haben sich in über 3000 Unterkasten differenziert. Und dann gibt es noch die Unberührbaren, die „out-casts“, die außerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen leben. Obwohl inzwischen eine demokratische Verfassung dem Kastenwesen abgeschworen hat und auch schon ein Unberührbarer Staatspräsident war, ist die Kastenordnung immer noch tief im Bewusstsein der Hindus verankert. Gemäss dieses Überlieferungen wurde und wird die Frau als ein Wesen zweiter Klasse behandelt, das in der Familie den untersten Rang einnimmt, d.h. oft noch den eigenen Söhnen untergeordnet ist.

 

Aufgabe des Menschen ist es, in Übereinstimmung mit der gegebenen Ordnung der Welt zu leben. In allen seinen Entscheidungen und Taten ist er von früheren Entscheidungen beeinflusst, und seine Taten werden auch auf sein späteres Leben einwirken. Er führt mit seinem Leben gleichsam ein Konto von Ursachen und Wirkungen, auf das er durch gute Entscheidungen einzahlt, und von dem er durch schlechte Entscheidungen abhebt. Dieses „Konto“, Karma genannt, begleitet ihn nicht nur in seinem jetzigen Leben, sondern durch immer neue Wiedergeburten hindurch. Die hinduistische Lebensordnung ist also wesentlich geprägt vom Glauben an ein Wiedererscheinen nach dem Tod in anderen Lebewesen. Damit ist der Mensch durch das „Karma“ in einen ewigen Kreislauf eingespannt. In ihm werden Verdienste und Versäumnisse immer weiter gerechnet. Der Brahmane als Mitglied der hoch angesehenen Kaste der Priester kann auf ein gutes Karma zurückblicken, der Unberührbare hat eine schlechte Bilanz seiner Vergangenheit.

 

Mitleid mit anderen Menschen, denen Schlimmes widerfährt, ist nicht angebracht, denn es ist nichts anderes als die Folge früherer Taten. Und das eigene Handeln ist darauf ausgerichtet, das Karma zu verbessern. Der höchste Lohn, der einem winkt, ist das Ende der Wiedergeburten. Das ist die wahre Erlösung des Menschen – das Auslöschen und Vergehen im Nichts. Hinduistische Religiosität bietet nun mancherlei Wege an, dem Ausscheiden aus dem Kreislauf der Wiedergeburten näher zu kommen:

-         Das ist zum einen der Erlösungsweg der Erkenntnis. Sie wird in einem langen und mühevollen Prozess geistiger Konzentration und Meditation gesucht. Das ist der Weg des Yoga, auf dem die Abwendung von der Welt, die Konzentration auf das Selbst geschieht, alles mit dem Ziel, sich selbst als reine Geistigkeit zu erleben, alle körperlichen Funktionen zu beherrschen, unter Kontrolle zu bringen und sogar still zu legen, um so dem göttlichen Urgrund habe zu kommen.

-         Zu den guten Werken gehört auch, den Göttern Verehrung zukommen zu lassen. Jeder Tag ist mit den entsprechenden Zeremonien verbunden.

-         Die liebevolle innere Zuwendung zu den Göttern ist vom Vertrauen getragen, dass sie diese ihnen entgegengebrachte Liebe erwidern und so den Weg zur Erlösung beschleunigen.

 

Mancherlei hinduistische Vorstellungen und Praktiken haben auch bei uns Liebhaber gefunden – vom Glauben an die Wiedergeburt über das Entzünden von Räucherstäbchen bis zum Yoga. Begegnung mit dem Hinduismus heißt aber darüber hinaus, sich mit dem Gesamtzusammenhang der Karma-Ordnung auseinander zu setzen, in dem die einzelnen Tätigkeiten stehen, das eigene Verhältnis dazu zu bestimmen.

 

Feste

 

Diwali: Nach der Regenzeit im Herbst werden Häuser und Wohnungen wieder herausgeputzt, neue Kleider angezogen und auf allen möglichen Simsen und Fensterbrettern einfache Öllämpchen aufgestellt – die Göttin des Glücks und des Reichtums wird in die Häuser eingeladen. Lichterketten in Großstädten erinnern an westliche Weihnachtsdekoration, und auch das Verschicken von Grußkarten scheint Brauch zu werden. Dazu kommen auch Knallkörper und Feuerwerk. Man besucht einander und isst von den angebotenen Süßigkeiten.

 

Holi: Dieses Frühlingsfest am Anfang der heißen Jahreszeit (Februar – März) erinnert an Karneval. Andere werden mit Farbe beschmiert, Ballons mit gefärbtem Wasser werden durch Auto- und Busfenster geworfen. Anlass zu Freude und Ausgelassenheit ist das Einbringen der Winterernte, und mythologischer Hintergrund ist der Sieg der guten über die bösen Götter. Krishnas Tanz und Spiel mit Hirtenmädchen gibt dem Fest auch einen erotischen Beiklang.

 

Pongal: Es ist das einzige Fest, das durch den Lauf der Sonne und nicht durch das Mondjahr bestimmt ist. Als Fest der Wintersonnenwende wird es am 14. Januar gefeiert. Markantester Brauch ist ein Kampfspiel mit kleinen Papierdrachen. Man isst und verteilt Milchreis, den man bewusst überkochen lässt – Zeichen von Überfluss und Fruchtbarkeit.

 

Lebenslauf

 

Schon vor der Geburt wird das Baby durch allerlei Bräuche vor bösen Einflüssen geschützt. Am 6. Tag nach der Geburt malt eine Frau, die so etwas wie eine „Patenschaft“ übernimmt, Mutter und Kind einen gelben Ingwerfleck auf die Stirn und verpflichtet sich zur Fürsorge für das Kind. Zum ersten Haarschnitt wird ein Priester eingeladen. Jungen der oberen Kasten bekommen mit elf Jahren die heilige Schnur umgelegt und werden von da an in die religiösen Texte eingewiesen.

Zu Hochzeiten gehört die Anwesenheit des Brahmanen, der Mantras murmelt. Die Ehefrau verlässt ihre Familie, einziger Bezug zu ihr bleibt der Bruder, der ihr einen roten Faden um das rechte Handgelenk bindet – wobei die Frau auch einen anderen Mann zum „Bruder“ wählen kann, der damit die Aufgabe übernimmt, sie zu beschützen.

Am heiligen Fluss Ganges zu sterben ist der Wunsch jedes frommen Hindu. Tote werden nicht bestattet, sondern verbrannt. Da Tote als unrein gelten, geschieht das ohne Anwesenheit von Angehörigen.

 

Strömungen und Weiterentwicklungen des Hinduismus

 

Obwohl unter dem Dach des Hinduismus ein Vielzahl religiöser Erscheinungsformen vereinigt ist,  gibt es auch Richtungen, die zu eigenen Religionen geworden sind.

 

·  Im 5. Jh. v. Chr. ist der Buddhismus aus dem Hinduismus hervorgegangen und zu einer eigenständigen Religion geworden.

·  Im 4. Jh. n. Chr. hat der Asket Mahavira den Jainismus begründet, der die absolute Gewaltlosigkeit vertritt. Weil auch alle Tiere eine Seele haben, muss das Töten auch des kleinsten Insekts vermieden werden. Mundbinden verhindern, dass aus Versehen Mücken verschluckt werden.

·  Im 15. Jh. wurde der Guru Nanak zum Stifter der Sikhs. Er versuchte mit seiner Lehre von der Erlösung durch Gottesliebe zwischen Hindus und Moslems zu vermitteln. Die Brücke zum Islam sah er in der liebevollen Zuwendung Gottes zu den Menschen, mit dem Hinduismus verband ihn weiterhin die Lehre vom Kreislauf der Wiedergeburten. Die Sikhs leben in Nordindien und machen immer wieder durch militantes Streben nach Unabhängigkeit von Indien auf sich aufmerksam.

·  Im 19. Jh. hat die Reformbewegung des sog. Neohinduismus v.a. auf Änderung der Kastenordnungen gedrängt und versucht, indisches mit westlichem Gedankengut zu verbinden. Markante Persönlichkeiten vertraten Vorstellungen von dem einen Gott, der nicht nur in den hinduistischen Gottheiten, sondern auch in Buddha, Jahwe, Jesus, Allah erfahren werden könne. Im Westen machten sie mit solch großer Integrationskraft auf den Hinduismus aufmerksam. Wohl am bekanntesten ist Mahatma Gandhi, der sich sowohl als rechtgläubiger Hindu verstand, den Glauben an die Götter nicht aufgab, und zugleich andere Religionen wie Christentum und Islam als Bereicherung seines eigenen Glaubens ansah, wobei er vor allem von Jesu Bergpredigt sehr geprägt wurde.

·  Daneben haben sich aber auch fundamentalistische Gruppen gebildet, die die ungebrochene Gültigkeit der alten Gesetze des Hinduismus erzwingen wollen.

·  In den zurückliegenden Jahrzehnten sind einige aus dem Hinduismus hervorgegangene Gruppierungen auch im Westen bekannt geworden:

-         die Transzendentale Meditation, die Verbindung zur Tiefenpsychologie herstellte,

-         die Hare-Krishna-Mönche, die durch stundenlanges Singen von Mantras, begleitet von Trommeln und ekstatischen Bewegungen auffallen und deren Geschichte in Europa auch von Finanzskandalen begleitet ist,

-         die Bhagwan-Bewegung, gegründet von Bhagwan Shri Rajneesh in Poona, zu dem viele Interessenten aus der westlichen Welt pilgerten, der dann in die USA umsiedelte, wo aber sein religiöses Projekt scheiterte. Die Samyasins in ihren rot-orangefarbenen Gewändern vertreten weiter die Lehre des Bhagwan, der Elemente aus vielen Religionen und Philosophien zu vereinigen suchte.

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