Religiöse Vielfalt
4. Evangelisches Profil in der religiösen Vielfalt
Mit dem bisher Benannten haben wir noch nicht im Blick, was evangelisches Profil für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Herkunft und Einstellungen in unseren Einrichtungen bedeutet. Wie gehen wir mit religiöser Vielfalt um? Diese Frage wird in ‚Hoffnung Leben’ in den Aspekten des zweiten Kapitels aufgenommen und umgesetzt. Die beiden mittleren Aspekte (B und C) „Qualitätsfragen zur Begegnung mit christlichen Inhal-ten“ und „Qualitätsfragen zur gemeinsamen Profilentwicklung von Kindertageseinrichtung und Kirchengemeinde“ werden gerahmt von den die Vielfalt in den Blick nehmenden „Quali-tätsfragen zur religiösen Dimension“ (A) und „Qualitätsfragen zum interreligiösen Miteinan-der“ (D).
Im Folgenden sollen nun unterschiedliche Umgangsweisen mit religiöser Vielfalt vorgestellt werden, deren Gewichtung in der je eigenen Konzeption der Einrichtung jeweils nach örtli-chen Gegebenheiten mit Hilfe der Qualitätsmerkmale in den Prozessen der Qualitätsentwick-lung genauer zu bestimmen ist.
1. Implizite Religiosität und implizites Christentum
Auf die Frage, was denn das Christliche in der Einrichtung ist, wird zuweilen so geantwortet: „Wir praktizieren christliche Nächstenliebe, wir zeigen sie in unserem Tun und in unserer Haltung, nicht mit großen Worten. Eltern und Kinder sollen unser christliches Profil an der Atmosphäre spüren, die in unserem Haus herrscht“.
Christliche Inhalte werden aus verschiedenen Gründen zurückgehalten.
- Ein plausibler Grund ist die Krippensituation. Da geht es in den ersten Jahren tatsäch-lich noch nicht primär um die verbalen Inhalte, sondern um die Feinfühligkeit, die dem Kind hilft, sichere Bindungen aufzubauen. Das ausdrücklich Christliche bleibt –implizit - bei der Erzieherin in deren Wissen darum, wie sehr die nonverbalen Bezie-hungssprachen religiöse Bedeutung haben: nämlich indem sie Verbundenheit stärken, die auch für religiöse Traditionen im Sinne von „religio“ als Rückbindung sehr be-deutsam sind. Da kommt es ganz und gar auf die persönliche Haltung an.
- Es scheint mir auch angemessen für christlich engagierte Erziehende in nicht konfes-sioneller Trägerschaft, in denen explizites Thematisieren christlicher Inhalte abgelehnt wird. Auch dann wird viel in der persönlichen Haltung vermittelt.
- Aber es reicht nicht mehr, wenn Kinder im sprachfähigen Alter ihre religiösen Fragen stellen und das Recht haben, in ihren Fragen ernst genommen und begleitet zu werden.
2. Säkulare Religiosität ohne christliche Inhalte
Sinnsuche zieht weite Kreise: Von der religiösen Verehrung von Stars und den Sporthelden bis zur Werbung, in denen gelingende Zukunft versprochen wird
(„gib deiner Zukunft ein Zuhause; ..wir machen den Weg frei“…) und weiter zu den Angeboten auf dem undurchschaubar gewordenen esoterischen und spirituellen Markt der Möglichkeiten. Berechtigte kritische Sicht aus christlicher Position sollte nicht mit Überheblichkeit einhergehen, sondern mit dem sorgfältigen Wahrnehmen, wie Menschen in unterschiedlicher Weise in ihrer Sinnsu-che unterwegs sind.
Damit tut sich ein weites Feld durchaus ernst zu nehmender allgemeiner Religiosität auf, de-ren Gemeinsames die Suche nach nachhaltigen tragfähigen Beziehungen ist (etwa im Sinne von Schleiermachers Definition von Religion als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“).
Wichtige Ansatzpunkte im frühpädagogischen Bereich sind da etwa Kinderbücher, in denen es um – implizit religiöse - Erfahrungen von Angenommensein und Geborgenheit geht, um die Fähigkeit des Staunens, und dann auch um die philosophischen und allgemein religiösen Grundfragen.
Das ist Religion, die mit dem „Recht des Kindes auf Religion“ gemeint ist, und denen auch in kommunalen Einrichtungen nicht ausgewichen werden darf. Was gibt Sinn, stärkt Grundver-trauen, gibt Orientierung und Halt? Religiosität in diesem allgemeinen Sinn macht aufmerk-sam darauf, wie sehr die Jungen und Mädchen in der Einrichtung Antworten auf solche Fra-gen suchen. Auch in den kirchlichen Einrichtungen gilt es die Sensibilität für - implizite - religiöse Bezüge zu wecken, die einer expliziten christlichen Religionspädagogik durchaus nicht im Wege stehen, sondern Hand in Hand mit ihr gehen können.
3. Religionssensible Erziehung und Bildung
Sensibilität ist auch das Stichwort für einen Umgang mit – expliziten - religiösen Traditionen, der in den Kindern den Sinn für das Geheimnisvolle des Religiösen, den Respekt vor diesen Traditionen in ihren verschiedenen Ausprägungen und Achtung der in diesen Traditionen le-benden Menschen wecken will. Da betrachten die Mädchen und Jungen aufmerksam eine kostbar gestaltete Heilige Schrift aus einer der Weltreligionen, erfahren von ihrer Herkunft, lernen kennen, wie sorgsam die Gläubigen damit umgehen. Erzieherinnen und Erzieher ma-chen sich so gut wie möglich kundig, geben auch den Kindern viel Gelegenheit, von eigenen Erfahrungen in ihren Herkunftsfamilien zu erzählen.
Religiöse Feste werden gemeinsam gefeiert, Eltern nehmen die Beteiligten in ihr religiöses Brauchtum mit hinein. Pädagogisches Ziel ist es, den Kindern die Weite der religiösen Wirk-lichkeit zu eröffnen, im Hören, Schauen und Staunen, im Entdecken von Beziehungen und Verwandtschaft zwischen den Religionen und auch im Bedenken, was einem mehr oder we-niger gut gefällt. Das passt gut zu Kindern, die zu Hause ohne religiöse Traditionsbindungen erzogen werden und so in dieser Weite reichlich Erfahrungen mit religiösen Traditionen sammeln können. Religiöse Entscheidungen sind dabei nicht intendiert.
Dieses interreligiöse Modell passt gut zur religionssoziologisch beschriebenen Patchwork-Religiosität: Menschen suchen sich aus verschiedenen Traditionen das für sie Ansprechende und Überzeugende aus und binden es in ihre selbst gestaltete religiöse Biografie ein. Da hat dann neben der zur Hochzeit überreichten Traubibel im Bücherschrank auch die Buddha-Statue ihren Platz, die auch ein Hausaltärchen zieren kann. Könnten solche Grenzgänger zwi-schen den Religionen nicht gute Botschafter interreligiöser Verständigung sein, sofern sie sich mit vielen verbunden fühlen? Ist denn nicht auch unser Christentum im Grunde eine Patch-wort-Religion, weil es im Laufe seiner Entwicklung altorientalische, ägyptische, griechische, römische, germanische Traditionen in sich aufgenommen hat? Auf der Suche nach überzeu-genden Antworten gilt es aber auch die Frage nach religiöser Verwurzelung in bestimmten religiösen Traditionen in den Blick zu nehmen, die sich trotz vieler Gemeinsamkeiten von anderen Traditionen unterscheidet.
4. Begegnungserfahrungen
Zumindest im Blick auf die monotheistischen Religionen lässt sich die Frage nach persönli-cher Zugehörigkeit nicht ausklammern. Es geht in allen Gemeinsamkeiten auch um Unter-schiede, die tief im religiösen Selbstverständnis verankert sind. Tod und Auferstehung Jesu Christi in ihren Deutungen und Auslegungen für den christlichen Glauben sind mit anderen Religionen nicht kompatibel, sondern begründen religiöse Wahrheit, zu der auch die Abgren-zung von anderen Wahrheitsansprüchen gehört.
Damit kommen wir zum Begegnungsmodell. Hier geht es in aller Freude am Gemeinsamen letztlich um die Gemeinschaft der religiös Verschiedenen. Religiöse Verschiedenheit, ja auch Fremdheit, wird so zum Lernfeld. Es geht um die Einsicht, dass Menschen in ihren religiösen Überlieferungen unterschiedliche Wege gehen, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.
Ist das Verrat am Inklusionsanspruch, wie zuweilen befürchtet wird? Es geht wohlgemerkt nicht um Integration religiös Andersartiger in eine bisher religiös homogene Gemeinschaft, sondern es geht um Gemeinschaft, die von verschiedenartiger Individualität und Biografie jedes Mitglieds ausgeht und die Normalität der Kommunikation unter diesen Verschiedenen pflegt.
Ein Aspekt solcher Verschiedenheit ist eben auch unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit, die dazu führen kann, dass Eltern von ihrem Elternrecht her die Teilnahme ihres Kindes an bestimmten religiösen Veranstaltungen ablehnen. Es ist Bildungsaufgabe, dass das nicht als Ausschluss aus der Gemeinschaft, sondern als eine Facette normaler Verschiedenheit erlebt und verstanden wird. Im Begegnungsmodell, das sich m.E. gut mit den anderen verbinden kann, lernen die Kinder religiöse Zugehörigkeit zu unterscheiden, nämlich an Erwachsenen in der Kindertagesstätte, die etwas von ihrer Religion und ihrer Zugehörigkeit zeigen, seien es Mitarbeitende des Hauses, seien es Eltern, weitere Familienmitglieder, Repräsentanten von Religionen, die in die Kindertagesstätte eingeladen werden. Sie lernen, dass solche Zugehö-rigkeit von der Teilnahme an anderen religiösen Vollzügen ausschließt.
Und sie lernen auch, sich in Rollen zu verhalten, in denen unterschiedliche Zugehörigkeit gelebt, gezeigt und auch kommuniziert werden kann. Das reicht vom Kopftuch von Alis Mutter, das auszuprobieren sich Sebastians Mutter weigert, zum Besuch von Gotteshäusern und dem Wahrnehmen, dass man hier entweder religiös zuhause oder in der Rolle des gern gese-henen Gasts sein kann, von unterschiedlichen Gebetsgesten, die zur je eigenen religiösen I-dentität gehören, bis zu den Festen, deren aktives Praktizieren den Religionsmitgliedern vor-behalten bleibt. Einladungen hin und her stehen unter dem differenzierenden Vorzeichen „Das ist meins, das ist deins“, mit dem auch sicheres Rollenverhalten möglich wird. Und es gibt auch nach wie vor genug Gemeinsamkeiten, bei denen solche Rollenunterschiede in den Hin-tergrund treten können.
Alle diese Modelle bis hin zum Begegnungsmodell können sich auch in nichtkirchlichen Ein-richtungen bewähren. Solche Kindertagesstätten sind dann wie ein religiöses Gemeinschafts-haus, das religiös Gebundene für ihre Feiern gerne nutzen und dabei die Nachbarschaft zum Mitfeiern einladen – natürlich unter den pädagogischen Regeln, die sich aus dem Bisherigen ergeben. Gläubige aus den Reihen der Mitarbeitenden, Eltern, oder auch eingeladene Reprä-sentanten zeigen ihre religiöse Verbundenheit und stärken das im Gemeinsamen auch wichti-ge Differenzieren zwischen unterschiedlicher Bindung.
5. Interreligiöse Erziehung und Bildung in kirchlicher Trägerschaft
Für Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft aber stellt sich noch eine besondere Frage und Herausforderung. Die evangelische Kindertagesstätte ist eben nicht nur das – selbst weltan-schaulich neutrale - religiöse Gemeinschaftshaus ohne eigene spezifische religiöse Prägung, sondern ein Haus der christlichen Gemeinde und damit christliche „Wohnung“. Sie über-nimmt zwar die Funktionen des „religiösen Gemeinschaftshauses“, in dem sich die Kinder aller Familien mit ihren unterschiedlichen religiösen Bindungen zuhause fühlen sollen, und in dem verschiedene religiöse Bindungen als religiöses Lernfeld ernst genommen werden. Und doch bleibt sie zugleich „religiöses Wohnhaus“, an dem klar ablesbar ist, wer der „Hausbesit-zer“ ist, welchen Stil er pflegt, was alles an diesen Stil erinnert. Das sind die in ‚Hoffnung Leben’ in den Aspekten B und C im zweiten Kapitel thematisieren christlichen Bezüge.
Die evangelische Kindertagesstätte darf und soll als ein Ort der Gemeinde und der Verbun-denheit mit ihr erkennbar sein – in einer Weise, die zugleich die Regeln des gemeinschaftli-chen Miteinanders nicht verletzt. Da geht es weder um ein trotziges „die anderen haben unter-schrieben, dass wir evangelische Einrichtung sind und die Kinder christlich und zur Gemeinde hin erziehen“, als um ein zaghaftes Zurücknehmen all dessen, was nach christlicher Profilie-rung aussehen könnte. Sondern es geht um eine gute Balance beider Anforderungen: um ein bewusstes Wahrnehmen der Familien anderer Religionen mit ihren Bedürfnissen und auch Schmerzgrenzen und um den Auftrag, religiöse Bildung mit den Angeboten und Möglichkei-ten der Verwurzelung aus den Schätzen christlicher Überlieferung heraus zu praktizieren. Diese Balance verlangt viele klärende Absprachen mit den Trägern, höchstmögliche Transpa-renz gegenüber den Eltern, vom Anmeldegespräch bis zu Informationen z.B. über christliche Festgestaltung, Gottesdienste etc. Sie verlangt auch Offenheit und Problembewusstsein im Team und eine Haltung gegenüber den Kindern, die nie vereinnahmt oder ausschließt, son-dern einlädt und dabei unterschiedliche Rollen der Teilnahme anbietet.
Weiter zum 5. Teil: In konkreten Praxisfeldern Qualität entwickeln (Dimensionaler Ansatz)