3. Entdeckungswege mit geschärftem evangelischem Profil

Wie die Qualitätsentwicklung in den durch das ganze zweite Kapitel hindurch führenden Grundmerkmalen mit pädagogischen Intentionen zugleich das evangelische Profil schärfen kann, wird nun unter vier Gesichtspunkten genauer verfolgt.

 

Evangelisches Profil unterstreicht und gewichtet (‚Grundvertrauen’ und ‚Selbständigkeit’)

 

Die wieder aktuell gewordene Bindungstheorie weist uns darauf hin, wie sehr kleine Kinder im frühen feinfühligen Beziehungsgeschehen einen Schatz an Lebenssicherheit gewinnen. In der frühen Kommunikation in den Sprachen der Sinne, im Riechen, Spüren, Essen, Hören und Sehen soll das Kind von Anfang an seine Eigenständigkeit erleben können. Es gewinnt in der vertrauensvollen Beziehung grundlegende Lebenssicherheit und gestaltet zugleich diese Beziehung durch seinen eigenen Ausdruck mit, der um Resonanz wirbt und ihn auch findet. Zu denken ist hier etwa an das Hin und Her im Mienenspiel zwischen Mutter bzw. Vater und Kind, das Erfinden von Geräuschen im Krähen, Gurgeln, Jauchzen, das vom Gegenüber be-antwortet wird usw. Das Genährt-Werden ist Ausdruck des Leben sichernden Beziehungsge-schehens, vor allem wenn es mit dichten Zeichen der Nähe verbunden ist.

Aber sichere Bindung will erprobt sein, um wirksam werden zu können. Solche Wirksamkeit zeigt sich, indem das Kind zeitlich angemessene Begrenzung von Abwesenheit der Bindungs-person ertragen kann. Bindung braucht die Bewährung, um zum Schatz an Grundvertrauen zu werden.

Entsprechendes zeigt uns auf ihre Weise die Resilienztheorie: in ihr geht es um die Fähigkeit, auch mit widrigen Lebensumständen zurecht zu kommen: Sie ermittelt Schutzfaktoren, die Menschen helfen können, ihr Leben zu meistern. Es geht dabei um Gefühle der Selbstwirk-samkeit, der Kohärenz (das Gefühl, in der Welt einen guten Platz zu haben, in Übereinstim-mung mit der umgebenden Wirklichkeit leben zu können). Hier werden in der Fachliteratur auch ausdrücklich spirituelle Gefühle der Verbundenheit mit Größerem, Umfassendem ge-nannt. Aber Schutzfaktoren werden erst dann zu Resilienzfaktoren, wenn sie sich in Risikosituationen bewähren können, wenn sich solche Erlebnisse zu bleibenden Erfahrungen verdich-ten und entsprechend im Gedächtnis verankert werden. Von Autoren der Resilienztheorie wird betont, dass diese Prozesse beim einzelnen Individuum weder vorhersagbar noch herbei-führbar sind, letztlich das Geheimnis jeder einzelnen Person bleiben.

Religionspädagogische Theorie und Praxis wären hier schlecht beraten, wenn sie aus diesen Befunden nicht Konsequenzen ziehen würden: etwa mit dem Nachdenken darüber,

  • wie wichtig die frühen Sprachen der Sinne auch für die späteren Glaubenssprachen sind;
  • wie frühe Bindungserfahrungen im Kind viele innere Bilder dafür bereitstellen, mit denen auch die späteren Gottesbilder Nahrung bekommen, um anschaulich und eindrücklich werden zu können;
  • wie wichtig es ist, Glaubensbeziehung von Anfang an auch mit Erfahrungen des Vermissens und Entbehrens, des sehnsüchtigen Erwartens, auch der persönlichen Not, des unerklärbar Bedrohlichen in Verbindung zu bringen;
  • wie sehr auch Kinderglaube von seinen frühesten Regungen an für uns Erwachsene unver-fügbar ist, in seinem Entstehen und seinen Wirkungen nicht kalkulierbar und berechenbar.

So fordert Evangelisches Profil auch aktuell zur Stellungnahme auf, z.B. zur Krippenpädago-gik. Betreuung ist viel mehr als Aufbewahrung, sondern es geht um lebenswichtige Treue- und Verlässlichkeitserfahrungen. Die enden nicht in der zwischenmenschlichen Bindungssitu-ation, sondern drängen weiter in den Bereich, in dem Religionen ihre Schätze an Symbolik der religiösen Beziehung bereitstellen, wirksam in der Echtheit, in der die Erwachsenen ihren Glauben leben.

 

Evangelisches Profil klärt und orientiert (‚Verantwortungsbewusstsein’ und ‚Mit Grenzen leben – Schuld und Vergebung’)

Mit dem immer wieder artikulierten Ruf nach verbindlichen Werten geht die Frage nach dem Für und Wider von Autorität einher. Erzieherinnen berichten von hochgradig verunsicherten Eltern, die sich auf keinen Fall in der autoritäre Ecke wieder finden, stattdessen partnerschaftliches Miteinander mit ihren Kindern pflegen wollen. Und die Kinder reagieren darauf, indem sie Eltern zu Dienstleistern ihrer Wünsche machen. Im Gegenzug dazu werden Eltern dann in der Ratgeberliteratur zu neuer Strenge aufgerufen, um Kinder in ihre Grenzen zu weisen und dies mit autoritärer Kraft durchzusetzen. Und immer wieder steht die Frage im Raum: Was ist gute Autorität?

Hilfreiche Antworten geben zahlreiche pädagogische Programme zum Deeskalieren von Konflikten, zu Konfliktlösungen. Schülerinnen und Schüler werden zu Mediatoren ausgebildet. Diese Wege geschehen mit viel professionellem Einsatz, mit dem das „Gehen in den Schuhen des anderen“ geübt wird, das Abgleichen der eigenen Gefühle und Bedürfnisse mit denen des Gegenübers, um gerechte Lösungen zu finden. In den guten und ertragreichen
Verfahren geht es auch immer wieder um die Frage: Woher kommt gute Autorität?

In der biblisch-christlichen Tradition steht uns ein Schatz an Erzählungen bereit, der anschaulich einen Weg durch den oft mühsamen Dschungel der Fragen nach guter Autorität bahnen kann. Es ist der Weg, der seinen Ausgangspunkt immer wieder neu bei dem uns von Gott geschenkten Leben in seiner Würde und individuellen Einzigartigkeit nimmt. Den Geboten geht die Erinnerung an das Geschenk der Freiheit voraus: „Ich, Gott habe euch aus dem ägyptischen Sklavenhaus in die Freiheit geführt“. Alles Weitere steht unter diesem Vorzeichen. In der bekannten Zachäusgeschichte steht die Wendung hin zum gerech-ten Umgang mit Macht unter dem Vorzeichen des Geschenks der Vergebung. Ein gewichtiger Unterschied zwischen Moral und Ethik besteht darin, dass Ethik bei den Potentialen ansetzt, so wie es auch die biblischen Geschichten auf ihre Weise tun. Ermahnungen zur Nächstenlie-be sind ja nicht falsch, sie sind es nur, wenn sie nicht von den Voraussetzungen ausgehen, sondern von Defiziten und Forderungen. Es war die alte Religionspädagogik, die jede Geschichte auf einen moralischen Lernsatz hin getrimmt hat, und ich fürchte, sie ist immer noch nicht ausgestorben. Die biblischen Traditionen bieten dagegen gute ethische Wegbeschrei-bung an.

Von den erinnernden Zusagen geht es zu Weisungen, die einen Rahmen dafür abstecken, was für ein Leben gelten soll, das diesen Namen verdient. Gottes schenkende Autorität wird da zur fordernden, wo es um den Erhalt des Lebens im umfassenden ‚Schalom’ geht. Von dieser Autorität her ist die der Menschen immer eine geliehene. Sie ordnet nicht über die Köpfe der Beteiligten hin an, sondern steht gemeinsam mit ihnen in der Aufgabe, das von Gott Geschenkte zu erhalten. Welchen gesetzten Rahmen für eigenes Entscheiden und Handeln brauchen Menschen, angefangen bei dem kleiner Kinder, samt dessen Erweiterung mit zu-nehmendem Alter? Wie kann in diesem Rahmen die eigene Verantwortlichkeit gestärkt werden? Wie können Kinder darin das ihnen von Anfang an gegebene Mitgefühl in immer neuen Handlungssituationen weiter entwickeln?

Biblische Geschichten bilden diesen Weg ab. Sie sind anschauliche Modelle für ihn, indem sie nicht auf bestimmte Ergebnisse festnageln, sondern immer wieder beharrlich diesen Weg vom Geschenk zu dessen Bewährung in Herausforderungen gehen. Im evangelischen Profil gilt es darauf zu achten, dass in der ethischen Thematik dieser Weg nicht abgekürzt wird und zur Moral verkommt und umgekehrt in den Techniken der Konfliktlösung die Fragen nach letztgültiger Autorität und ihrem Besonderen nicht verschwinden.

 

Das folgende Erzählbeispiel zu den Zehn Geboten zeigt, wie dieser Weg in einer kindgemäßen biblischen Geschichte Gestalt gewinnen kann:

Seit Wochen sind die Israeliten nun unterwegs, aber jeden Tag erzählen sie sich immer wieder von neuem von den aufregenden Ereignissen, die ihnen die Freiheit gebracht haben. „Weißt du noch“, so fängt immer einer an, „wie uns die ägyptischen Aufseher Tag für Tag in die Steinbrüche getrieben haben, ohne Pause, jeden Tag? - Weißt du noch, wie rücksichtslos sie mit uns umgegangen sind und es ihnen egal war, wenn einer unter der Last der schweren Steine zusammengebrochen ist? – Weißt du noch, wie sie uns immer wieder eine Belohnung versprochen, aber ihr Versprechen niemals gehalten haben? – Weißt du noch, wie sie uns alles weggenommen haben und wir überhaupt nichts für uns hatten? – Weißt du noch…?“ Sie hatten einander so viel zu erzählen! „Ja, schlimm war diese Zeit! Aber zum Glück ist jetzt alles anders! Jetzt sind wir frei! Niemand kann uns jetzt mehr befehlen, was wir zu tun haben! Niemand kann jetzt mehr von uns verlangen, uns abzuplagen. Wir sind jetzt freie Menschen!“ Immer wieder rufen sie diese Worte einander zu und freuen sich dabei. Mose, der Anführer der Gruppe, hört das gerne. Denn oft sagen sie dazu auch: „Danke Mose, dass du uns in die Freiheit geführt hast!“ – „Dankt Gott“, antwortet Mose dann, „es war Gottes Tat, ich war nur sein Helfer!“ Aber es freut ihn doch immer wieder, dass die Leute so über ihn reden.

Aber seit gestern hat Mose Sorgen. Rebekka, die Mutter von mehreren Kindern, deren Mann in Ägypten ums Leben gekommen war, kam zu Mose: „Du musst mir helfen, Mose! Jemand hat einen meiner Wasserschläuche weggenommen. Ich brauche ihn aber dringend. Du weißt doch auch, dass Kinder in der Hitze schneller Durst bekommen als Erwachsene!“ Mose hatte dann gleich die Leute befragt, und der Dieb wurde gefunden. Aber das Gespräch mit ihm war für Mose schwierig. Zuerst leugnete Simon alles ab. Als dann der Wasserschlauch bei ihm gefunden wurde, gab er es endlich zu. Aber gleich darauf wurde er zornig und rief: „Soll sich doch jeder selbst um seine Sachen kümmern! Schließlich habe ich doch auch Durst gehabt! Und du, Mose, spielst dich wohl als neuer Aufseher über uns alle auf! Wir brauchen keinen Aufseher mehr! Soll sich doch jeder selbst holen, was er braucht, und auf seine Sachen selbst aufpassen!“

Mose hatte dann den Rat der Ältesten einberufen und das mit ihnen besprochen. „Wir brau-chen Regeln“, sagte der alte Ruben nachdenklich, „gute Regeln für alle!“ – „Simon hat doch eine Regel vorgeschlagen“, meinte Daniel, „jeder soll sich holen, was er braucht!“ – „Das ist keine gute Regel“, antwortete darauf Ruben, „Was kann Rebekka dafür, dass eines ihrer Kinder den Wasserschlauch liegen gelassen hat?“ – „Mose, du musst uns helfen!“, sagten sie dann alle. Aber Mose antwortete: „Ich will nicht euer Aufseher sein. Davon haben wir in Ä-gypten genug gehabt!“ – „Aber Mose, du musst uns helfen, gute Regeln zu finden, du musst uns zeigen, wie das geht, denn auf dich hören die meisten von uns!“ redeten die anderen wei-ter auf Mose ein.

Am nächsten Tag geht Mose auf den Berg, um allein zu Gott zu beten und mit ihm zu spre-chen. Dazu kann er niemand anderes brauchen. „Gott, du hast uns die Freiheit geschenkt“, betet er. „Jetzt sind wir wieder eine große Gemeinschaft. Aber die Freiheit allein hilft uns nicht. Wir brauchen auch Regeln, gute Regeln! Hilf uns, gute Regeln zu finden, die für alle gut und gerecht sind. Und ich will nicht der Aufseher meines Volkes sein. Zeige uns, dass du unser Anführer bist, damit wir auf dich hören!“ Lange betet Mose. Dann steht er wieder auf, macht sich auf den Weg. Und da sieht er etwas, das er vorher nicht gesehen hatte: Zwei Stein-tafeln liegen da. Neugierig kommt er näher. Er erkennt eine Schrift darauf, eine Schrift, die er lesen kann. Und er liest und murmelt bei sich: „Ja, das ist gut! Das ist sogar sehr gut! … Du sollst darauf achten, dass alle Menschen genug freie Zeit für sich und ihre Familien haben! Du sollst darauf achten, dass alle gut und sicher leben können. Du sollst darauf achten, dass die Schwachen von den Starken nicht benachteiligt werden. Du sollst darauf achten, dass Menschen die Wahrheit sagen, dass sie einander nicht betrügen und auch nicht bestehlen. Ja, das ist sehr gut!“ Mehrmals liest Mose diese Sätze, und dann betet er wieder zu Gott: „Guter Gott, das passt genau zu dem, was ich jetzt brauche. Ich weiß, du hast mir diese Steintafeln geschickt. Ich weiß jetzt, dass diese Regeln von dir kommen. Dafür danke ich dir!“

Mit diesen Tafeln kommt Mose zu den anderen zurück. „Hört mir alle zu“, ruft er. „Ich habe Regeln von Gott mitgebracht!“ Und er liest laut diese Regeln vor. „Meint jemand von euch, dass das Regeln von Aufsehern sind?“ – „Auf keinen Fall“, antworten die Leute, „das sind gute Regeln. Die helfen uns!“ Das muss auch Simon zugeben. „Diese Regeln von Gott können uns helfen, wenn wir uns selbst weitere Regeln machen“, sagt Mose weiter. Josef meint dazu: „Ich habe schon eine Idee für solch eine Regel: Wenn einer einen Wasserschlauch findet, muss er sorgfältig fragen, wem er gehört. Denn wer ihn vergessen oder verloren hat, soll deswegen nicht an schlimmem Durst leiden müssen. Was meint ihr dazu?“ Die anderen ni-cken. „Ich habe auch einen Vorschlag, fügt Rahel an: „Wenn einer einen Knecht hat, darf er ihn nicht schlagen und muss ihm auch einen freien Tag in der Woche geben, damit er sich erholen kann!“ Auch da stimmen die anderen zu. „Und Lügen ist immer schlecht“ ruft die kleine Mirjam. Die anderen lachen. „Und Auslachen ist auch nicht gut“ fügt Mose an.

Zum Schluss sagt Daniel: „Das sind gute Gebote, gute Regeln von Gott! Damit können wir jetzt immer genau überlegen, was für unsere Gemeinschaft das Richtige ist. Und es sind wirk-lich keine Aufseher-Regeln!“ Nach dieser Versammlung kommt Simon zu Mose und entschul-digt sich: „Mose, das mit dem Aufseher, das habe ich nicht so gemeint! Aber ich weiß jetzt ganz genau, was schlechte Aufseher-Regeln und was gute Regeln von Gott sind! Kannst du mir verzeihen?“ – „Ja“, antwortet Mose, „denn Gottes Regel sagt ja, dass ich für andere das tun soll, was ihnen zu einem guten Leben hilft!“ – „Es sind wirklich gute Ratgeber-Regeln“ sagt Simon erleichtert, und dann lachen beide fröhlich.

Gesprächsanregungen:

  • An welche dieser Ratgeber-Regeln von Gott kannst du dich noch erinnern?
  • Welche von diesen Regeln findest du ganz besonders wichtig?
  • Wie können wir diese Regeln von Gott auch heute noch gebrauchen?
  • Überlege dir, bei welchen Gelegenheiten wir sie auch heute gut gebrauchen könnten!
  • Es sind keine Aufseher-Regeln, hat Mose erklärt. Kannst du sagen, was der Unterschied zwischen Aufseher-Regeln und Ratgeber-Regeln ist?
  • Fallen dir Regeln aus unserem Kindergarten ein, die gut zu den Regeln von Gott passen? Kannst du das auch erklären?
  • Mose hat nur ganz wenige Regeln von Gott mit vom Berg gebracht. Wäre es besser gewesen, wenn es möglichst viele gewesen wären? Was meinst du dazu?

 

Evangelisches Profil weitet den Horizont (‚Neugier’ und ‚Sinn für Geheimnisvolles’)

 

Seit etlichen Jahren werden für die Kindertagesstätten in vielerlei Stimmen neue Bildungsak-tivitäten angemahnt. Ergebnisse der Hirnforschung und der neueren Entwicklungspsychologie zeigen uns das Bild des „kompetenten Lerners“, des Kindes als „Autor seiner eigenen Bil-dungsgeschichte“. Dem entsprechend akzentuieren die wissenschaftlichen Studien Bildung als Selbstbildung: Kinder nehmen Impulse aus der sie umgebenden Welt auf und verwandeln sie in Schritte ihres persönlichen Erfahrungs-, Lern- und Erkenntniswegs. Es sind ihre eigenen Lernerfahrungen, die sie sich mit Augen, Ohren, Händen, mit ihren Emotionen und ihrem Denken erobern. Das sind damit nicht mehr die von Erwachsenen vorgeformten Lernvollzüge, in denen die Kinder vorangetrieben werden. Zu ihren eigenen Lernwegen gehören Fehler und Umwege, die freilich nur in den Augen der Erwachsenen als solche erscheinen. Es geht nicht länger primär um das Vermitteln von Wissen und Kenntnissen, sondern um Aneignungspro-zesse, über die die Kinder selbst verfügen. Maria Montessori steht für dieses Konzept – sie spricht von anregenden Lernumgebungen, welche die Kinder eigenständig für sich nutzen. Das hat allerdings nichts zu tun mit der aufgeregten Sorge, dass bestimmte Zeitfenster, in de-nen die Bereitschaft der Kinder für bestimmte Lernprozesse hoch ist, ungenutzt bleiben könn-ten und deshalb mit entsprechenden Lernprogrammen voll gepackt werden.
Eine bessere Antwort darauf sind Programme, welche die Kindertagesstätten zu „Häusern der kleinen Forscher“ werden lassen, mit viel Anregungen, Raum und Zeit für eigentätiges Ler-nen, für Bildung als Selbstbildung.

Naturwissenschaftliches Forschen steht hier im Vordergrund. Zum Glück ziehen aber auch kinderphilosophische Aktivitäten ihre Kreise. Voll Verwunderung stellen die Erwachsenen fest, dass und wie Kinder mit ihren Fragen, Ideen und Antworten auf ihre Weise klassische Fragen der abendländischen Philosophie aufnehmen:

  • Fragen nach der Herkunft unseres Lebens und unserer Welt,
  • Fragen nach den Grenzen des Lebens und dem Danach,
  • Fragen, ob das anscheinend Selbstverständliche wirklich so selbstverständlich ist.

Und überall in diesen Denkbewegungen stellen die Kinder selbst fließende Übergänge zur Kindertheologie her: Wer war am Anfang da? Woher kommt Gott? Was heißt „schon immer“? Woher können wir etwas über Gott wissen? Damit geht es um den Umgang mit Glau-bensüberzeugungen, an denen Kinderphilosophie ihre Grenzen erreicht. Umso wichtiger ist es, dass hier im Zeichen des evangelischen Profils die Tore weit offen sind. Ist das wirklich der Fall? Sind schon beim Erzählen biblischer Geschichten so viele Erziehende ängstlich ge-bremst durch die Sorge, etwas falsch zu machen, so gilt das noch mehr im Blick auf philoso-phisch-theologische Gespräche mit Kindern.

 

Den humanwissenschaftlichen Erkenntnissen folgen heißt zunächst, den Kindern viel Raum zu geben für ihre Gedanken, sie in ihrer eigenen Logik zu verstehen lernen. Da gibt es kein objektives „Richtig und Falsch“, sondern da zählt die lebendige Kommunikation der Ideen und Gedanken. Im Aufeinander-Hören graben sich die Kinder immer tiefer auch in die theo-logischen Gedankengänge ein. So wie ‚Hoffnung Leben’ bei der persönlichen Überzeugung der Erziehenden ansetzt, so gilt es auch hier, die Freiheit zum eigenen Denken und Glauben, zur eigenen Überzeugung hoch zu achten. Es gilt für die Erwachsenen gleichermaßen wie für die Jungen und Mädchen. Das Besondere des biblisch-christlichen Glaubens kommt nicht mit Bewertungen und Richtigstellungen ins Spiel, nicht mit dem Ankommen bei den überlieferten Glaubenssätzen, sondern im Gegenteil, indem sich etwa von biblischen Geschichten aus theo-logische Gespräche entzünden, in denen die Kinder sich einander ihre Verstehens- und Deu-tungswege offen legen, sich dadurch zum Weiterdenken anstacheln und bereichern – und auch die Erwachsenen in ihre Suche nach guten und ehrlichen Antworten einzubeziehen. Arbeit am evangelischen Profil heißt hier besonders, am Abbau der Barrieren zu arbeiten,

  • den Barrieren der Scheu, die Fragen des Glaubens in das eigenständige Forschen und Denken der Kinder hereinzuholen,
  • den Barrieren der Sprachlosigkeit, die in der Angst wurzeln, etwas falsch zu machen, Fal-sches über den Glauben zu sagen, keine richtige Antwort zu wissen.

Zum evangelischen Profil würde es sehr gut passen, wenn die Kindertagesstätten in evangeli-scher Trägerschaft zu „Häusern der kleinen Glaubensdenker“ werden.

 

Evangelisches Profil rückt das oft nebensächlich Erscheinende ins Zentrum (‚Phantasie und Kreativität’ und ‚Hoffnung’)

 

Eindrucksvoll sind immer wieder die aufmerksamen Augen der Kinder, mit denen sie unab-lässig Bilder ihrer umgebenden Welt in sich aufnehmen. Ständig registrieren sie Auffälliges in ihrer Außenwelt, in der Welt des Lebendigen und der Welt der Dinge. In ihnen formt sich das zu inneren Bildern, in denen Neues an Bestehendes angelagert und mit begleitenden Emotio-nen verbunden wird. Diese Bilder sind sinnstiftende Deutungen ihrer Wirklichkeit. Da geht es um den Platz des eigenen Ich in der umgebenden Welt, um Orientierung in ihr, um Zusam-menhänge und deren Verlässlichkeit. Immer wieder und immer neu arbeiten die Mädchen und Jungen daran, die äußere Welt der Wahrnehmungen mit der Welt ihrer inneren Bilder zu ver-mitteln, die inneren Bilder zu bereichern und mit diesen Bildern umgekehrt den Zusammen-hängen der äußeren Welt Sinn zu geben und mit ihnen dem eigenen Leben.

Bei diesem Vermitteln von innen und außen kommt der Phantasie eine Schlüsselrolle zu. Mit ihr gestalten wir gleichsam einen Zwischenbereich zwischen außen und innen, in dem das Miteinander von beidem durchgespielt, bildhaft vor Augen gestellt, mit anschaulichen Argu-menten bedacht wird. Dieser Zwischenbereich ist die Welt des Ästhetischen, der Sinn su-chenden Wahrnehmung und schöpferischen Gestaltung der eigenen Bedeutungen und Deu-tungen.

  • - Im Spiel eignen sich die Kinder nicht nur die Welt an, sondern formen sie nach eigenen Ideen;
  • - in ihren Bildern interpretieren sie ihre Wahrnehmungen zu eigenen Bildern der Welt, zu Weltbildern;
  • - in ihrem Suchen nach deutenden Erklärungen finden sie selbst ihre phantasievollen Lösungen, mit denen sie eben auch das Unerklärbare, Sperrige, Geheimnisvolle bearbeiten.

Dieser Raum der schöpferischen Phantasie kennzeichnet auch Kultur und Kunst mit ihren individuellen, zur Verständigung einladenden Schöpfungen, ebenso die Welt der Rituale als gleichsam kollektiv gewordene ästhetische Deutungshilfen – in der Spannung zwischen ermüdender Erstarrung und phantasievollen Neubelebungen. Entsprechendes gilt für die Welt der Symbole, die in ihrer sinnstiftenden Kraft je neu entdeckt, in persönlicher Aneignung als auch neuem Ausdruck lebendig gehalten werden.

Der Schritt ins Religiöse stellt uns vor Augen, wie sehr die Suche nach Sinn, Vorstellungen von Lebensfülle und von dem unergründbaren Woher alles Lebens gerade in den Religionen in einem Schatz an Ritualen und Brauchtum, an Symbolen und Ritualen, an ganzheitlichen Vollzügen, im immer wieder neuen Entdecken ihrer Bedeutungen lebendig ist. Im christlichen Glauben sind es die Visionen einer Welt des Friedens und der Gerechtigkeit, der Lebensfülle und der haltenden Begleitung über alles Begrenzende hinaus. Sie bereichern unseren christli-chen Glauben, und wir feiern sie in unseren Festen. Evangelisches Profil heißt, diesen Schatz, in dem unsere Glaubensdeutungen lebendig bleiben, auch im Bildungsgeschehen wahrzu-nehmen und zu pflegen.

Leider hat ästhetische Bildung, die Pflege der deutenden Phantasie mit ihrer schöpferischen Kraft im Bildungsgeschehen nicht das Gewicht, das ihr zukommt. Zusammen mit Religion gehört sie im Schulbereich zu den sog. „weichen Fächern“, bei denen zuerst die Kürzungen ansetzen. Im Sinne des evangelischen Profils gilt es nachdrücklich auf drohende Verkümme-rungen aufmerksam zu machen. Und es gilt auch die Einrichtungen in dem Bewusstsein zu stärken, dass die Pflege des ganzheitlich Ästhetischen nicht frühkindliche Spezialität ist, die in der Ausrichtung auf die sog. Schulfähigkeit zurückzutreten hat, sondern dass diese Quelle von Verständigung über Lebenssinn auch für späteres Bildungsgeschehen unverzichtbar ist und deshalb nicht zugeschüttet werden darf.

Mit ihren Kompetenzen für ästhetische Bildung haben unsere Einrichtungen aber auch große Bedeutung für die Gemeinden: ich denke an lebendige Liturgien, die aus den Kindertagesstätten heraus entstehen, an Kinderbilder von Gott, der Kirche usw. die auch den Erwachsenen Gesprächsanstöße geben können, an elementare Zugängen zu biblischen Geschichten, die sie in unsere heutige Welt herein holen. Evangelisches Profil heißt, um die Bedeutung des schöp-ferischen Gestaltens, des phantasievollen Hervorbringens eigener Glaubensdeutungen zu wis-sen und dies sorgsam zu pflegen. Es bedeutet für unsere Gemeinden, diese Schätze zu nutzen, den evangelischen Kindergarten auf dem Territorium der Kirchengemeinde als Brunnenstube für kreative Lebendigkeit auch in Glaubensdingen zu achten und die Gemeindetüren dafür zu öffnen – ganz besonders auch dort, wo sich in Trägerverbünden die organisatorischen Verbin-dungen zur Kirchengemeinde lockern.

All das ergibt sich aus dem Ernstnehmen humanwissenschaftlicher Erkenntnisse auch für den Glauben, aus den in ‚Hoffnung Leben’ einladend präsentierten Wegen von Kernaussagen des Glaubens hin zu den differenzierten Qualitätsfragen, wie sie im ersten Kapitel eröffnet und dann weiterhin im Blick auf die differenzierten Alltagstätigkeiten ausgeführt werden.

 

Weiter zum 4. Teil: Evangelisches Profil in der religiösen Vielfalt

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