Christliche Traditionen im Zeichen der Selbstbildung
3. Christliche Traditionen im Zeichen der Selbstbildung
Wie verändert sich religiöse Bildung im Lauf der Jahre, und dann vor allem über die Kindergartenzeit hinaus? Am Umgang mit biblischen Geschichten und dem eigenen Nachdenken über Gott und die Fragen des christlichen Glaubens lässt sich das gut zeigen. Religiöse Zusammenhänge verfolgen die Kinder in engem Zusammenhang mit den Erfahrungen in ihrer Lebenswelt. Sie suchen in Geschichten und Gesprächen nach Antworten, ob und inwiefern die ihnen begegnenden Elemente der christlichen Tradition zu ihren Erfahrungen mit der umgebenden Wirklichkeit passen. Und sie denken umgekehrt von sich aus theologische Zusammenhänge mit ihren eigenen Schlussfolgerungen und ihrer Logik weiter. Sie suchen in Geschichten nach Erweiterung ihrer Erfahrungswelt und zeigen sich als tiefsinnige philosophische und theologische Denker. In den biblischen Geschichten identifizieren sie sich mit den Gestalten, denen viel gelingt, die anspruchsvolle Aufgaben bewältigen, die Anerkennung finden. Sie genießen mit ihren „Helden“ Freundschaftsbeziehungen, in denen sie sich wohlfühlen, aber auch bewähren können. Sie nehmen Anteil an Konflikten, suchen nach konstruktiven Lösungen und bedenken sie auf ihre Tragfähigkeit hin. Sie interessieren sich für gute Beispiele eines Verhaltens, das von Nächstenliebe und Gerechtigkeit bestimmt ist. Sie träumen sich neben alltäglichen Geschichten auch in die Welt des Geheimnisvollen und Wunderbaren hinein. Was sie aus vergangener Zeit hören, versuchen sie von ihrem gegenwärtigen Erfahrungshorizont zu verstehen. Sie fragen detailliert und akribisch nach, wollen genau wissen, das damals geschah. Sie entwerfen phantasievolle Perspektiven für die Zukunft in Bildern, wie die Welt sein soll, wie sie eine gute Welt sein kann.
All das sind Merkmale, die Bildung als Selbstbildung auszeichnen. Für evangelisches Profil ist kennzeichnend, dass auf solche Weise biblische Erzählungen Bildungsgeschichten für Kinder sein können, mit denen sie nach Bestätigung ihrer selbst in der Identifikation mit den Hauptpersonen suchen, soziale Herausforderungen lösen, Interesse und Neugierde an der biblischen Welt bis an die Grenzen des Erkennbaren hin entwickeln. Sie zeigen ihre Kreativität im eigenständigen Sich-Aneignen dieser Geschichten, im Setzen ihrer eigenen Schwerpunkte. Religiöse Bildung heißt für sie, dass Glauben und Leben zusammengehören, dass die Welt des Glaubens auch mit dem Instrumentarium des eigenen Verstehens immer weiter durchdrungen wird. Was im Kindergartenalter begonnen hat, führen Grundschulkinder mit ihrer immer differenzierteren Logik weiter. Die große Herausforderung bleibt weiterhin, wie die Welt des Unsichtbaren vorstellbar wird, wie mit den Mitteln, mit denen sie sich die sichtbare Wirklichkeit erschließen, auch das nicht Sichtbare und Geheimnisvolle gedacht werden kann. Dabei zeigt sich, dass die Kinder immer wieder grundlegenden theologischen Fragestellungen auf der Spur sind. Dies soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden:
- Das eine sind Vorstellungen von Gott in menschenähnlicher Gestalt, die in ihrer Unzulänglichkeit begriffen und deshalb immer wieder neu und anders gedacht werden. Aber weil Kinder im Grundschulalter noch anschaulich denken, fällt es ihnen schwer, zu abstrakteren Gottesvorstellungen zu finden. Interessant sind da so manche Vorstellungen, mit denen anschauliche Menschenähnlichkeit mit dem ganz Anderen der göttlichen Wirklichkeit zusammenzudenken versucht wird. Wie lässt sich Allmacht und Unendlichkeit ausdrücken? Vielleicht mit einer riesengroßen Körpergestalt, die Galaxien einschließt, oder auch umgekehrt mit Winzigkeit in der Welt der Atome. Vielleicht auch mit einer Vielzahl von Händen und Füßen oder auch mit einem gemalten Gottesbild, das anschließend mit weißer Farbe unsichtbar gemacht wird. Gegenüber dem Kindergartenalter wird das Überprüfen an den Vorstellungen der Wirklichkeit jetzt genauer, differenzierter.
- Eine andere Frage ist die, wie Gott zugleich im Himmel und auf der Erde sein kann. Kinder denken scharfsinnig darüber nach, wie der jenseitige Gott hier auf der Erde erfahrbar ist. Wie können Menschen Gottes Stimme hören? Wie hört Gott Gebete? Wie kann Gott Menschen nahe sein? Wo hinterlässt Gott Spuren auf dieser Welt? Woher kann man wissen, ob es Gott wirklich gibt? Und weiter geht es zu den Fragen, warum Gott das Böse in dieser Welt zulässt, wie Gott auf Menschen einwirkt.
Evangelisches Profil in Familienzentren zeigt sich darin, dass den religiösen Fragen der Kinder nicht ausgewichen wird, sondern dass sie als zentrale Anlässe religiöser Bildung aufgenommen werden. Es geht nicht um richtige, endgültige Lösungen, denn die würden den Prozess des Weiterdenkens vom Sichtbaren zum Unsichtbaren hin zum Abschluss bringen. Kinder brauchen vielmehr Bestätigungen, dass sie mit ihrem Denken auf einem guten Weg sind, und dass da auch immer wieder ihre eigene Kreativität gefragt ist. Sie brauchen die Begleitung der Erwachsenen, um das von ihnen Gedachte auch zur Sprache zu bringen - durch Bestätigung und Rückfragen, auch durch das Aufmerksammachen auf Widersprüche. Kinder sollen erfahren können, dass das Reden von Gott nicht etwas ist, das theologischen Spezialisten vorbehalten bleiben muss, sondern dass es viel Raum gibt für eigene Gedanken. Da gehört auch das Eingeständnis eigener Unsicherheit dazu und die Einsicht, dass Erwachsene an den gleichen theologischen Problemen „nagen“ wie sie selbst, dass das Gespräch hier nicht von den wissenden „Großen“ zu den unwissenden „Kleinen“ erfolgt, sondern ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe sein darf.
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