2. Die Kindertageseinrichtung als Stätte religiöser Bildung

Schon seit Jahrzehnten ist ganz dezidiert vom Kindergarten als Bildungseinrichtung die Rede, aber Bildungspläne für Kindertagesstätten gehören zu den jüngsten Errungenschaften. Mit dem Orientierungsplan für Baden-Württemberg und entsprechenden Bildungsplänen oder –empfehlungen in den anderen Bundesländern ist die Bildungsdiskussion in ihren Konsequenzen endgültig in der Kindertagesstätte angekommen. In diesen Plänen ist viel von einer eigenständigen Elementarbildung die Rede, die nicht verschult werden dürfe, beim spielerischen Lernen anzusetzen habe, sich an der Förderung des je individuellen Kindes in all seinen Lebensbezügen und Fähigkeiten auszurichten habe. Dem stehen aber von anderen verfolgte Zielsetzungen entgegen, die mit der frühen Förderung der Kinder die Aussicht auf bessere Studien- und Berufschancen verbinden, mehr Wissen und Können als früher, bessere Positionen im ökonomischen Leistungswettbewerb anstreben. Da wird dann oft darauf gepocht, dass spätere schulische Anforderungen in einzelnen Fächern und Inhaltsbereichen schon im Kindergarten mit entsprechenden Fördermaßnahmen und Kursangeboten zu berücksichtigen seien, von den Fremdsprachen bis zu den Naturwissenschaften. Gedacht wird da oft in den Kategorien der Schulfächer und Fachdisziplinen, wie sie den Unterricht vor allem in den weiterführenden Schulen weithin bestimmen.

 

In solchem Wettstreit um die besten Bildungsvorstellungen und –konzeptionen hat Kirche Wichtiges beizutragen und einzubringen. Da ist zunächst die Frage zu stellen, welches Bild vom Menschen bzw. vom Kind die Vorstellungen von Bildung leitet. Sind es Vorstellungen vom wettbewerbsfähigen, funktionsfähigen Kind oder die vom Kind als eigenständigem, unverwechselbaren Individuum, das die in ihm liegenden Gaben und Fähigkeiten entdecken kann und darf? Oder anders formuliert: Ist es das Bild des durch seine Defizite bestimmte Kind, die möglichst rasch zu beheben sind, oder das der Orientierung an seinen Ressourcen, die es sorgfältig wahrzunehmen und zu fördern gilt, damit das Kind sie selbst ans Licht bringen kann? Aus den vielerlei biblischen Bezügen, die darauf antworten, stechen die beiden neutestamentlichen Evangelienabschnitte hervor, in denen Jesus Kinder begegnet, sie aufwertet, sie in ihrem großen Vertrauen zum Vorbild des Glaubens erklärt, ihnen die Zuwendung schenkt, die die Erwachsenen in seinem Umkreis zuerst zurückgewiesen haben (Mk 9 und 10).

 

Die biblisch orientierte Sicht des Menschen und des Kindes unterstützt Ansätze, die von der Persönlichkeit jedes einzelnen Kindes ausgehen, die danach fragen, was Kinder an Hilfestellungen brauchen, damit sie ihre Gaben und Fähigkeiten entfalten und ihr Leben in ihre Hand nehmen können. Sie intendiert dies Fragen nach dem, was Kinder stark macht – und endet nicht bei der großen Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen und dem, was sie dem Kind eröffnen können. Sie fragt weiter nach dem, was letztlich Vertrauen und Lebensmut stiftet. Sie eröffnet Sichtweisen, die über das hinausweisen, was Menschen anderen Gutes tun können. Das bestimmt evangelisches Bildungsprofil: Zum einen ist es die konsequente Unterstützung all derer, die bei der Wertschätzung jedes Kindes in seiner unverwechselbaren Eigenständigkeit ansetzen. Zum anderen ist es die Entfaltung dessen, was es heißt, Ebenbild Gottes zu sein, das eigene Leben als Geschenk Gottes zu erfahren.

 

Das Bildungs- und Entwicklungsfeld 6 des Orientierungsplans von Baden-Württemberg ist dem Thema Sinn-Werte-Religion gewidmet und benennt die Stelle, an der evangelische Kindertagesstätten ihr besonderes Profil festmachen können. Es ist wichtig, dass dieses Thema im Orientierungsplan für alle Einrichtungen verankert ist. Niemand kann es sich leisten, an diesen Aspekten von Bildung vorbeizugehen, sie dem Engagement bestimmter Träger zu überlassen. Die Frage nach Sinn gehört zu dem, was alle Menschen bewegt; die Frage nach den Werten und ihren Begründungen wird immer lauter in unserer Gesellschaft gestellt und besonders auch an die Bildungseinrichtungen gerichtet; das Thema der Religionen in ihrer Vielfalt ist aus dem Zusammenleben in unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Für evangelische Einrichtungen aber hat dieses Bildungs- und Entwicklungsfeld noch ein ganz besonderes Gewicht.

 

Evangelisches Profil nimmt pädagogische Orientierung am Recht des Kindes auf Bildung im umfassenden Sinne gerne auf, bekräftigt die Bedeutung stärkender Beziehungen, die Förderung seiner Fähigkeiten und all dessen, was auf Eigenständigkeit der Kinder und ihr positives Selbstbild zielt. Es stellt sich den pädagogischen Aufgaben, die mit Sinn- und Wertorientierung und Orientierung in der religiösen Vielfalt gegeben sind. Evangelisches Profil beschreibt zugleich einen Umgang mit diesen Aufgaben und Intentionen, der von der biblischen Sicht bestimmt ist. Das Wertschätzen jedes Kindes als Geschöpf Gottes ist Maßstab für den Umgang miteinander und soll das Zusammenleben bestimmen – und zugleich sollen Kinder auch erfahren, erleben und bedenken können, wo solches Menschenbild verankert ist, und wie es in dem Reichtum biblisch-christlicher Überlieferung anschaulich wird. Das pädagogische Konzept des Orientierungsplans gibt den kirchlichen Trägern Raum, die in ihm thematisierten Fragen nach Sinn, Werten, Religion im Sinne des gesellschaftlichen Bildungsauftrags mit ihrer Akzentuierung aufzunehmen. Es verpflichtet sie zugleich, ihr Bildungsprofil und den Umgang mit christlichen Überlieferungen, kirchlichen Traditionen und Bezügen zur Kirchengemeinde als Beitrag zum allgemeinen Bildungsauftrag zu gestalten und kenntlich zu machen.

 

Frage nach Sinn

„Warum bin ich auf der Welt?“ fragt ein kleines Kind seine Mutter und will keine biologischen Fakten wissen, sondern wohl hören: „Es ist für uns ganz wichtig, dass du da bist. Wir freuen uns über dich. In dir steckt so vieles drin, das uns alle reich macht!“ Sinn erfährt das kleine Kind in Beziehungen, die ihm Halt geben und es in seiner Selbständigkeit bestärken. In und aus den verlässlichen Beziehungen heraus kann das Kind seine Bilder von der Welt gewinnen, seiner Neugierde an den Dingen Raum geben und seine Fragen stellen. Nur so kann es sich auch auf Beunruhigendes einlassen, neben dem Lebendigen auch Totes wahrnehmen und einordnen. Wie sehr Elementarpädagogik von tragenden Beziehungen bestimmt ist, vom Wechselspiel des Haltens und Freigebens, der Suche nach Geborgenheit und der Lust am Selber-Machen, das zeigt beispielsweise die Arbeit an Qualitätsmerkmalen, in der aufmerksam registriert und bedacht wird, wo im alltäglichen Miteinander die verlässlichen Beziehungen der Ausgangspunkt für eigenständige Bildungsprozesse der Kinder sein können: vom Begrüßen bis zum Verabschieden, von ordnenden Ritualen  bis zu der Aufmerksamkeit, in der Kinder in ihren Nöten wahr- und ernstgenommen werden; im Geburtstagsfest für jedes einzelne Kind, in dem es sich in seiner Einmaligkeit erleben kann, und vieles mehr. Evangelisches Profil bedeutet auch, dass die Qualität der Beziehungen mit all dem, was sich daraus ergibt, sorgfältig bedacht und allen Beteiligten gegenüber transparent gemacht wird.

 

Und dann gehört es dazu, über die zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus die Beziehung zwischen Mensch und Gott in den Blick zu nehmen, in den vielen biblischen Geschichten, die davon erzählen; im Beten mit Kindern; in Gesprächen, die um die Frage kreisen, wer Gott für uns Menschen ist, wie Gott als dieses unsichtbare Gegenüber vorstellbar ist. Elementares Reden von und mit Gott heißt, von den vielfältigen Aspekten der zwischenmenschlichen Beziehung ausgehend zu bedenken, was und wie das auch für Gott gilt. Das schließt sensibles Wahrnehmen ein, wann solche Aspekte „dran“ sind, um behutsam zwischenmenschliche Erfahrungen, auch das Bedürfnis der Kinder nach solchen Erfahrungen auf die Gottesbeziehung hin zu öffnen. Erzählen und Reden von und mit Gott muss zu dem passen, was Kinder beschäftigt und bewegt, damit es für sie hilfreiche und weiterführende Klärung und Begleitung in ihrer Frage nach Sinn sein kann.

 

Frage nach den Werten

In jüngster Zeit wird immer wieder der Beitrag der pädagogischen Institutionen zur Werteerziehung und –bildung hervorgehoben und auch angemahnt. Wo lernen Kinder bzw. Jugendliche Verantwortung zu übernehmen für das eigene Leben und das Zusammenleben mit anderen? Es gilt die Bedürfnisse der anderen mit einzubeziehen, wenn nach brauchbaren, guten Regeln für das Zusammenleben gesucht wird. Was für das Zusammenleben aller Beteiligten wertvoll und erhaltenswert ist, das soll mit solchen Vereinbarungen geschützt und gepflegt werden. Wertebildung zielt damit weniger auf das Vermitteln von Normen, von der Ordnungsliebe bis zur Höflichkeit, sondern vielmehr auf die solchen Normen voraus liegenden Einstellungen und Haltungen. Sie motiviert dazu, sorgsam mitzudenken und entsprechend zu handeln, was für das Zusammenleben wichtig ist. Dabei kann schon kleinen Kinder nach und nach bewusst werden, was Menschen zum Leben brauchen, was für das Zusammenleben erstrebenswert ist. Gleichberechtigung aller, Recht jedes Kindes auf Beachtung und Respektierung in seiner individuellen Eigenart, daraus in den je konkreten Gegebenheiten zu entwickelnde Vereinbarungen und Regeln - die Beachtung dieser Voraussetzungen soll allen Beteiligten möglichst viel Freiheit und Entfaltungsraum ermöglichen.

 

Die biblische Überlieferung kann zu solchem Wertbewusstsein viel beitragen. Die Zehn Gebote führen uns vor Augen, was für ein gutes Zusammenleben unverzichtbar ist, vom Schutz der Schwachen zum Schutz dessen, was alle Menschen zum Leben brauchen und weiter zur Verlässlichkeit des menschlichen Wortes und damit all der mit ihm gegebenen Zusagen. Geschichten im Alten und Neuen Testament enthalten ein Fülle von Beispielen dafür, wie Menschen sich von Gott beschenkt fühlen konnten und dazu bereit waren, davon an andere weiterzugeben; wie Menschen andere sensibel in ihren Bedürfnissen wahrnahmen und sich davon ich ihrem Handeln beeinflussen ließen; wie Menschen auch mit eigenen Unzulänglichkeiten, Grenzen und Versäumnissen fertig wurden, Streitigkeiten und Konflikte meisterten und im Vertrauen auf Gott einen Neuanfang wagen konnten. Evangelische Kindertagesstätte hat die besondere Chance, in biblischen Geschichten immer wieder auf motivierende Modelle für eigenes Verhalten zurückzugreifen; eben nicht nur als moralische Forderung und Verpflichtung, sondern in der Gestalt von Erzählungen, in denen die Zuhörenden miterleben können, wie sich Menschen - etwa durch die Zuwendung Jesu - beschenkt fühlen konnten und dadurch auch die Motivation und Bereitschaft zu Weitergeben erwuchs; wie es aus den Erfahrungen des Beschenktseins heraus leichter fiel, anderen zu verzeihen und zu vergeben, aufeinander zuzugehen und neu anzufangen. Gerade das alltägliche Zusammenleben in der Kindertagesstätte bietet viele Chancen für einen gelebten Glauben, der sich in den täglich neuen Herausforderungen des Zusammenlebens bewähren kann. Und das gilt besonders im Blick auf Kinder, die anders sind, seien es Kinder mit Behinderungen, Kinder aus anderen kulturellen und religiösen Traditionen, samt den damit erworbenen Verhaltensweisen, die oft viel Klärungsbedarf in der Gestaltung des Miteinanders mit sich bringen.

 

Frage nach Religion

Moderne Lern- und Bildungstheorien betonen die Eigenständigkeit, in der Kinder sich Erfahrungen aneignen, ihre Vorstellungen von der sie umgebenden Welt ausbilden, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten entdecken. Kinder als „kompetente Lerner“ brauchen nicht den „Lernfahrplan“ der Erwachsenen, sondern Gelegenheit, ihren eigenen Lerninteressen folgen zu können. Sie brauchen Erwachsenen als „Ko-konstrukteure“ ihres Lernens, die ihnen geeignete Lernanreize zuspielen, mit denen sie dann selbständig und produktiv umgehen können. Zur Lebenswelt der Kinder gehören auch religiöse Traditionen, so wie sie den Kindern begegnen. Evangelische Kindertagesstätte bietet Begegnung mit christlicher Tradition an, mit Ritualen des Alltags, gebundenen und freien Gebeten, biblischen Geschichten und ermöglicht das bewusste Erleben des Kirchenjahrs mit seinen besonderen festlichen Höhepunkten. Was ist in ihrem Umgang mit konfessionell geprägter christlicher und auch außerchristlicher Religion das Besondere des evangelischen Profils?

 

Zunächst ist festzuhalten, dass die christliche Tradition in der Kindertagesstätte kaum durch konfessionelle Unterschiede bestimmt ist. Religionspädagogische Anregungen von beiden Seiten werden reichlich wechselseitig genutzt: das Konzept einer religiösen Erziehung, die von der Lebenswelt der Kinder ausgeht und von ihrer Alltagswelt aus Bezüge zum Glauben herzustellen sucht, bildet eine breite gemeinsame Basis. Aber zugleich stellt sich auch die Frage nach konfessioneller Identität und ihren Akzenten. Im Gegenüber zu katholischer Frömmigkeitspraxis erscheint die evangelische oft eher defizitär: kein Kreuzzeichen, kein Weihwasser, keine Segnung der Palmzweige oder des Adventskranzes. Muss es bei solchen Defizitanzeigen bleiben? Für evangelisches Verständnis ist im Sinne des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen die Selbständigkeit zentral, eigenverantwortlich für den Glauben einzutreten und ihn entsprechend zu gestalten.

 

Besonders deutlich wird dies im Umgang mit der Bibel. Erzieherinnen und Erzieher können Kindern ein Vorbild darin sein, biblische Vorlagen mit eigener Vorstellungskraft in die eigene Wirklichkeit hereinzuholen, dabei etwa im freien Nacherzählen schon Bezüge zwischen damals und heute mitschwingen zu lassen, den Kindern gleichsam im Erzählen eine „vorbereitete Umgebung“ (M. Montessori) zu schaffen, in der sie selbst solche Bezüge zwischen damals und heute, ihre eigene Identifikation mit den biblischen Gestalten aufnehmen und mit ihrer eigenen Phantasie weiter gestalten. Das passt gut zum eigenständigen Lernen der Kinder. Selbständigkeit im Glauben bedeutet die auf eine gemeinsame Mitte bezogene Vielfalt persönlicher, individueller Gewichtungen, Aktualisierungen, Konkretionen. Evangelischer Freiheit entspricht es, wenn Erzieherinnen und Erzieher biblische Geschichten mit ihren Zugängen zum Glauben in eigener Vorstellungskraft und Phantasie - in Verantwortung gegenüber der biblischen Mitte und den Bedürfnissen der Kinder - lebendig werden lassen, auch wenn biblisches Erzählen so einen jeweils persönlichen Charakter bekommt. Das ist die Einladung an die Kinder, ihren eigenen Bildern und Vorstellungen ausdrücklich Raum zu geben, im eigenen Weitererzählen, in Bildern und Spielen zu biblischen Geschichten, in eigenen Vorstellungen von Gott, in eigenen Meinungen zu Aussagen des christlichen Glaubens. Evangelisches Profil heißt so, keine Angst vor der Vielfalt im eigenen Haus des Glaubens zu haben, sofern die Bezüge zu den biblischen Ursprüngen erkennbar bleiben und über eigenes Nach- und Weiterdenken auch gegenseitig Rechenschaft gegeben werden kann. Eigener kindlicher Umgang mit biblischer Überlieferung ist dann nicht zugestandene religiöse „Spielwiese“ für die Kleinen, sondern Einübung in Vielfalt im Sinne der evangelischen Freiheit. Vielfalt wird im weiteren Sinne sichtbar in den unterschiedlichen religiösen Biografien der Erzieherinnen und Erzieher, ihren unterschiedlichen Zugängen und ihrem Umgang mit christlichem Glauben. Das schließt Gespräche ein, in denen im Team und mit den Trägervertretern der „Suche nach dem eigenen Glauben“ (F. Schweitzer) viel Bedeutung zugemessen wird.

 

Religiöse Vielfalt in der evangelischen Kindertagesstätte begegnet vor allem in Kindern und Eltern anderer Religionen. Sicherlich bieten religiöse Gemeinsamkeiten, etwa das Wiedererkennen der biblischen Gestalten auch in der islamischen Überlieferung, gemeinsame ethische Verpflichtungen, eine willkommene Basis im interreligiösen Bildungsgeschehen. Schwierig aber wird es angesichts der Unterschiede. Wie kann vermieden werden, dass das Kennenlernen verschiedener religiöser Traditionen zu einem Durcheinander in den Vorstellungen der Kinder führt? Was ordnet die unterschiedlichen Vorstellungen? Es sind die Menschen, die in ihnen verwurzelt sind. Beim Kennenlernen religiöser Traditionen ist immer deshalb darauf zu achten ist, wem sie zuzuordnen sind, wem sie „gehören“. Interreligiöse Bildung wird so zu interessanten „Forschungsprojekten“ für Kinder. Dabei geht es eben nicht nur um die religiösen Phänomene an sich, sondern immer um die religiöse Praxis von Menschen in ihrer unterschiedlichen Zugehörigkeit, mit der die Differenzierung zwischen Eigenem und Anderem vorankommt. Unterschiedliches Beten, Feiern von Festen, Essens- und Kleidungsregeln werden miterlebt und festgemacht an den Personen, die sie für sich als verpflichtend erachten – im Gegenüber zu anderen, für die etwas anderes gilt. Ziel ist es dabei, in Kindern das Bewusstsein für Eigenes zu stärken und zugleich Wertschätzung und Respekt für Anderes zu fördern.

 

In der evangelischen Kindertagesstätte steht christliche Frömmigkeit im Mittelpunkt, denn

Erzieherinnen und Erzieher können nur das glaubwürdig leben und zeigen, was für sie selbst gilt. Christliche Kinder lernen so ihr eigenes religiöses Zuhause kennen - und andere Kinder die Rolle des Mitfeierns und Dabeiseins bei etwas, das nicht das Eigene ist. Dabeisein kann und soll also in unterschiedlichen Rollen geschehen. Und dazu gehören auch Möglichkeiten zum Rollentausch: Beim Besuch der Moschee, beim Feiern eines islamischen Fests sind dann christliche Erwachsene und Kinder zu Gast. Muslimische Kinder sind bei dem für sie Fremden in der evangelischen Kindertagesstätte mit dabei, und in der Beachtung ihrer Rolle werden sie vor christlicher Vereinnahmung geschützt; christliche Kinder erleben diese distanziertere Rolle, wenn z.B. muslimische Eltern der Repräsentanten des Islam zum Besuch in die evangelische Kindertagesstätte kommen und dort etwas von ihrer Religion zeigen. Kinder anderer Religionen in der evangelischen Kindertagesstätte - das ist kein Zugeständnis aus rechtlichen Gründen oder diakonischen Motiven, sondern gibt wichtige Anregungen für religiöse Bildung. Was Kinder hier in der Einrichtung im praktizierten Miteinander lernen, das sind wichtige Erfahrungen auch für den späteren Umgang mit Menschen anderer kultureller und religiöser Herkunft. In solchem Sinne verstanden sind Kinder anderer Religionen keine Bedrohung des evangelischen Profils, sondern geben Anlass, Wesentliches dieses Profils zu zeigen: konstruktiver Umgang mit religiöser Vielfalt, der eigene Identität stärkt und respektierendes Kennenlernen des Fremden fördert.

 

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat auch zu Fragen der Bildung und speziell zum Bildungsauftrag in Kindertagesstätten Stellung genommen. Sie macht deutlich, welches Bildungsverständnis es aus ihrer Sicht zu unterstützen gilt. Bei bloßen Statements aber kann es nicht bleiben. Überzeugend werden sie erst, wenn auch entsprechende Praxis dahinter steht. Das geschieht in evangelischen Schulen und ganz besonders in den vielen Kindertagesstätten in kirchlicher Trägerschaft. Hier können Ideen und Konzeptionen mit Leben erfüllt werden. Gesellschaftliche Verantwortung der Kirchen für Erziehung und Bildung kann sich dabei mit der Einsicht verbinden, dass in solchem Gestalten christliche Gemeinde zugleich viel für ihr eigenes Selbstverständnis, für die Erfüllung ihres Auftrags gewinnen.

 

 

Literaturhinweise

Kirchenamt der EKD (Hg): Wo Glaube wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen. Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2004.

Frieder Harz: Kinder und Religion. Was Erwachsene wissen sollten, Seelze 2006.

Frieder Harz: Bildung in evangelischer Verantwortung. Profilentwicklung in Kindertagesstätten, Nürnberg 2007.

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