Philipp Melanchthon vor Herausforderungen – und Martin Luther ist nicht da

Vorüberlegungen

Nach der Disputation in Leipzig bleibt zunächst offen, wie es weitergeht. Im folgenden Jahr 1520 wird Luther dann die Bannandrohungsbulle zugestellt – es wird ernst. Luther will sie öffentlichkeitswirksam verbrennen, und Melanchthon selbst lädt zu diesem inszenierten Widerstandsereignis ein. Aber es deutet sich schon an, dass begeisterter Überschwang zu Unruhe und Exzessen hin zu kippen droht. Das wird deutlicher, nachdem Martin Luther nach Worms zum Reichstag abgereist ist und Monate danach auf der Wartburg verbringen muss. Melanchthon treibt inzwischen zunächst engagiert das Reformationsgeschehen in Wittenberg weiter mit an. Aber dann droht es aus dem Ruder zu laufen. Es kommt zu Unruhen und Melanchthon sieht sich schließlich gezwungen, den Kurfürst zu bitten, Luthers Rückkehr zu ermöglichen. In dieser Zeit gelingt es sowohl Luther als auch Melanchthon auch, bahnbrechende Werke hervorzubringen: Auf der Wartburg übersetzt Luther das Neue Testament ins Deutsche und lässt sich dazu von seinem Freund Philipp manch guten Rat geben. In Wittenberg erarbeitet der die Anfänge seines literarischen Lebenswerks. Es ist das in seiner Art ganz neuartige und wegweisende Lehrbuchs der evangelischen Theologie, mit dem bis in die folgenden Jahrhunderte hinein gelehrt und gelernt wurde.

Die Erzählung verfolgt den roten Faden der Freundschaft zwischen Martin und Philipp weiter. Der Jüngere muss in Abwesenheit des dominierenden Älteren die Führungsaufgabe übernehmen, wird ihr aber letztlich nicht gerecht. Mit Hilfe des Freundes aber lernt er, auch mit seinen Grenzen umzugehen. Das gibt vielerlei Anknüpfungspunkte für Gespräche mit den Kindern über ihre eigenen Freundschaftserfahrungen und den Umgang mit eigenen Schwächen.

Erzählung

In Wittenberg hat der Sommer Einzug gehalten. Die Leute sind wieder viel mehr als in den vergangenen Monaten draußen. Auch die Studenten verbringen ihre Pausen zwischen den Lehrveranstaltungen gerne in der warmen Maienluft. Jetzt fällt es so richtig auf, dass viele neue Studenten dazugekommen sind. Wenn sie gefragt werden, was sie zur kleinen und vor wenigen Jahren noch eher unbedeutenden Universität hingezogen hat, antworten sie meistens: „Wegen Martin Luther und Philipp Melanchthon. Wir haben Melanchthons Bericht vom Streitgespräch Doktor Luthers mit Doktor Eck gelesen. Es ist ja gleich gedruckt worden und hat sich in Windeseile überall hin verbreitet. Wir sind begeistert von der neuen Lehre und nutzen gerne die Möglichkeit, sie bei diesen beiden berühmten Professoren ausführlich zu studieren“.

Philipp Melanchthon muss noch oft an diese Leipziger Gespräche im letzten Jahr denken. Seine Freundschaft mit Martin ist seither immer kräftiger geworden. Aber auch ein Schatten legt sich über seine Freude: Martin Luther hat in Leipzig vor dem Vertreter der alten Lehre seine neuen Gedanken nicht widerrufen. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Ketzerprozess gegen ihn eröffnet wird. Der Papst wird ihn aus der Gemeinschaft der Kirche hinausstoßen. Der Kaiser wird die Reichsacht über ihn verhängen, so dass er nirgendwo mehr seines Lebens sicher sein kann. Ein Schauder läuft ihm bei diesem Gedanken über den Rücken. ‚Wie soll es dann mit uns hier in Wittenberg weitergehen?‘ fragt er sich.

Dann, mitten im Juni, geschieht das Befürchtete. Ein Bote des Papstes in Rom überbringt des Schriftstück, mit dem Martin Luther der Kirchenbann angedroht wird. Philipp kann es gar nicht erwarten, mit Martin zu besprechen, wie es weitergehen soll. Zu seinem Erstaunen trifft er einen fröhlichen Martin, und der erklärt ihm: „Dieses Schreiben ist für mich nicht das Papier wert, auf dem es steht. Gott wird uns schützen und uns helfen, unsere Wege weiter zu gehen“. Martin lässt die zwei Monate Frist für den geforderten Widerruf verstreichen – und nichts Besonderes geschieht. Es wird Herbst – und nichts geschieht. Spalatin, der Berater des Kurfürsten, nimmt bei einem Treffen Philipp zur Seite und sagt zu ihm: „Unser Kurfürst hält seine Hand über Martin Luther, so gut und so lange er kann – hoffentlich noch möglichst lange“. Es wird Winter – und nichts geschieht.

Martin ist fröhlich, voller Zuversicht und Gottvertrauen und steckt Philipp damit an. „Ich möchte gerne allen zeigen, dass ich keine Angst vor dem Kirchenbann habe“, sagt er zu Philipp. „Deshalb werde ich vor aller Augen das päpstliche Schreiben, die Bannandrohungsbulle, verbrennen“. Auch Philipp findet das eine prima Idee. Er schreibt ein Plakat, lädt zum 10. Dezember um 9 Uhr zur Verbrennung der Bulle ein und befestigt es an der Tür der Stadtkirche. Nach der Beendigung seiner morgendlichen Vorlesung zieht auch er mit seinen Studenten durch das Elstertor hinaus zur Heilig-Kreuz-Kapelle. Dort ist schon der Feuerplatz hergerichtet. Luther hält eine kleine Rede, dann wirft er die Bulle unter dem Gejohle der Studenten ins Feuer. Einige haben auch Bücher mitgebracht. „Die brauchen wir hier in Wittenberg bestimmt nicht mehr, wir haben jetzt bessere“, rufen sie und werfen sie auch ins Feuer. Philipp ist nicht wohl dabei, dass Bücher verbrannt werden. Von klein auf hat er Bücher als Schätze gehütet und sorgsam behandelt. „So geht man nicht mit Büchern um“, murmelt er vor sich hin.

Ernst wird es für Martin dann einige Monate später mit der Vorladung zum Reichstag, der Versammlung aller deutschen Fürsten in Worms. Es ist die allerletzte Gelegenheit zum Widerruf. Jetzt hat Philipp mit Martin viel zu bereden. „Willst du wirklich nach Worms reisen?“ fragt er besorgt. „Du weißt, das kann deinen Tod bedeuten!“ „Sicher“, antwortet Martin, „aber ich muss es tun. Es ist die einmalige Gelegenheit, vor aller Welt zu bezeugen, wie wir unsere neue Lehre auf die Bibel, die Heilige Schrift aller Christen gründen“. „Und was ist, wenn du nicht zurückkommst?“ fragt Philipp weiter. „Was Gott mit uns vorhat, wird er auch weiterführen“, antwortet der. „Du, Philipp, wirst, solange ich weg bin, mein Vertreter hier in Wittenberg und darüber hinaus sein“. Philipp schluckt. „Ich bin doch jetzt erst 24 Jahre alt“, erwidert er, „ich habe nicht die Erfahrungen wie du. Wie soll ich dich da gut vertreten können?“ Martin antwortet: „Sei unverzagt und habe guten Mut. Gott wird dir die Kraft und Weisheit geben, das Richtige zu tun!“

Dann reist er mit seinen Begleitern ab und lässt Philipp mit vielen neuen Aufgaben zurück. Der führt Luthers Lehrveranstaltungen zur Bibel weiter, auch viele Gespräche, mit denen die Leute bisher zu Luther kamen. Dann kommt nach etlichen Tagen endlich eine Nachricht. Spalatin teilt Philipp unter dem strengen Siegel der Verschwiegenheit mit, dass Martin wohlbehalten an einem geheimen Ort in Sicherheit gebracht worden ist. Boten stehen bereit, die Nachrichten zu ihm und von ihm zurück bringen werden. Einerseits freut sich Philipp jetzt, dass er mit Martin Kontakt halten kann. Andererseits ist er auch enttäuscht, weil er nicht weiß, wie lange Martin sich versteckt halten muss. Er bleibt also weiter auf sich gestellt mit seinen Aufgaben. Aber zum Glück sind ja auch die Wittenberger Freunde da. Einer von ihnen ist Gabriel Zwilling, der schon einige Jahre hier in Wittenberg studiert und auch seine Prüfungen bestanden hat. Er ist ein mitreißender Prediger, zu dem die Leute strömen. Er drängt Philipp: „Wer weiß, wie lange es dauert, bis Luther wieder da ist. Lass uns jetzt weitermachen mit dem Neuen und endlich in die Tat umsetzen, was ihr uns mit euren Worten gelehrt habt. Lass uns gleich jetzt den Gottesdienst auf die neue Weise feiern und das Abendmahl mit Brot und Wein, so wie es in der Bibel steht. Dazu brauchen wir keine Priester der alten Lehre mehr. Das machen wir jetzt selbst. Und so feiern sie, zunächst einmal im Kreis der Studenten. „Mit uns fängt das Neue an, das Alte ist vorbei“, rufen und singen die Studenten. An Weihnachten hält Johannes Bugenhagen, der neue Pfarrer der Wittenberger Stadtgemeinde, für alle solch einen neuen Gottesdienst – ohne Priestergewand, in seinen normalen Kleidern. Wieder heißt es: Das Alte ist vorbei, das Neue beginnt! Spalatin bringt Nachricht vom Kurfürst Friedrich: „Seid bitte behutsam mit dem Wechsel vom Alten zum Neuen! Gebt den Menschen Zeit, sich daran zu gewöhnen!“ Aber die Leute von der Universität und viele andere drängen: „Weiter so! Alles muss neu werden!“ Immer wieder spürt Philipp Unruhe in sich. Er weiß nicht, was er tun soll, und denkt: „Wenn Martin jetzt da wäre, dann könnte er sicher gut entscheiden, wie es weitergehen soll.

Eines Tages tauchen drei junge Männer aus Zwickau in der Stadt auf. Der eine hat früher bei Philipp studiert, die beiden anderen sind Handwerkergesellen. Auch sie sagen: „Das Alte muss weg, das Neue ist da!“ Aber sie haben eine ganz besondere Vorstellung von dem Neuen: „Gott hat zu uns gesprochen“, sagen sie, „wir sind seine Boten. Wir sind das Neue!“ Philipp versucht mit ihnen ins Gespräch zu kommen und erklärt: „Das Neue ist die alleinige Orientierung an der Heiligen Schrift“. Aber darauf wollen sie nicht hören. „Wir sind einfache Leute, Handwerker“, sagen zwei von ihnen. „Wir können kaum lesen, aber wir können hören, wenn Gott zu uns spricht. Und das sagen wir laut und deutlich weiter“. Philipp spürt, dass er keinen Zugang zu diesen Männern findet. Er muss hilflos zusehen, wie so viele Wittenberger ihnen aufmerksam lauschen und es nicht mehr für notwendig halten, selbst in der Bibel zu lesen.
„Das Neue ist da, das Alte muss weg!“ Immer lauter wird dieser Ruf. Das Alte, das sind auch die übrig gebliebenen Mönche, die es in Wittenberg gibt. Sie werden auf der Straße bedroht und sogar mit Steinen beworfen. „Wir wollen euch nicht mehr hier haben“, rufen die Leute. „Verlasst das Kloster oder verlasst die Stadt!“ Das Alte, das sind auch die Heiligenbilder in den Kirchen. „Hinweg mit ihnen“, rufen einige und fangen an, sie aus den Kirchen zu entfernen.

Philipp ist entsetzt. Er berät sich mit den anderen Freunden Luthers und klagt ihnen sein Leid: „Die frohe Botschaft der Bibel hat doch nichts mit Gewalt zu tun! Das Neue ist doch nichts, das man mit Gewalt herbeizwingt. Es muss in den Herzen wachsen und aus den Worten der Bibel seine Kraft finden!“ Die anderen nicken und fragen: „Was willst du tun. Philipp? Dir hat Martin Luther die Verantwortung in die Hände gelegt“. Aber Philipp weiß nicht, was er tun soll. Er findet keinen Weg, das zu beenden, was die ganze Stadt in Unruhe versetzt. Und so richtet er eine große Bitte an den Kurfürst: Er möge doch bitte Martin Luther zurück nach Wittenberg holen. Denn nur so kann wieder Ruhe einkehren.
Martin Luther kommt zurück. Eine Woche lang predigt er jeden Tag in der Stadtkirche, spricht mit den Leuten – und endlich zieht wieder Ruhe in die Stadt ein.

Philipp ist erleichtert, dass er seine Aufgabe wieder zurück in Martins Hände legen kann. Und er ist zugleich enttäuscht über sich selbst, dass er es nicht geschafft hat. „Martin, du hast mir so viel zugetraut, aber ich habe versagt“, sagt er zu seinem Freund. Aber Martin spricht ihm neuen Mut zu: „Gott hat dir großartige Gaben geschenkt, und die brauchen wir dringend für unsere große Aufgabe. Vergiss nicht, wie du mir mit deinen einmaligen Griechisch-Kenntnissen geholfen hast. Nur so konnte ich auf der Wartburg das Neue Testament aus der griechischen Ursprache ins Deutsche übersetzen. Diese Lutherbibel habe ich auch dir zu verdanken!“

Ja richtig, daran hat Philipp gar nicht mehr gedacht, dass er über den geheimen Boten zur Wartburg Martin viele Fragen zur Bibelübersetzung beantworten konnte. Es wird ihm wieder wohler zumute. „Und vergiss nicht, lieber Philipp“, muntert ihn Martin weiter auf, „vergiss nicht die ersten Kapitel zu deinem Lehrbuch des christlichen Glaubens im Sinne der biblischen Botschaft, die du mir geschickt hast. Das wird ein wunderbares, großartiges Buch für alle Studenten. Ja, es wird für alle ein sehr hilfreiches Buch sein, die sich mit dem beschäftigen wollen, was für unseren Glauben wichtig ist“. Und dann hebt Martin die Stimme und sagt laut und deutlich: „Wenn mich jemand fragt, welches die wichtigsten Bücher sind für unseren Glauben, so steht an erster Stelle die Bibel und an der zweiten dein Buch!“ Jetzt strahlt Philipp. Seine trüben Gedanken sind verflogen. Martin sagt noch: „Kein Mensch muss alles können. Jeder soll den Platz finden, an dem er das für unser Zusammenleben leisten kann, was in ihm steckt. Du, Philipp, hast deinen Platz schon gefunden. Es sind deine klare Gedanken und dein weiter Blick für alles, was für unseren Glauben wichtig ist. Du bist der Lehrer der Reformation. Und ich bin sicher, da gibt es für dich noch eine Menge zu tun“.

Gesprächsanregungen

  • Philipps Eindruck, versagt zu haben, hat ihm schwer zugesetzt. An was hat er dabei wohl besonders gedacht?
  • Kannst du dich auch an solche Erfahrungen erinnern? Was hat dir dabei geholfen?
  • Martins gute Worte haben Philipp viel bedeutet. Manche Sätze hat er sich sicher besonders gut gemerkt. Welche waren das?
  • Kennst du auch gute Worte, die jemand zu dir gesagt hat?
  • Den Satz „Das Alte muss weg, das Neue ist da!“ hat Philipp zuerst gerne mitgesprochen. An was hat er dabei wohl gedacht?
  • Und dann hat er einiges erlebt, das seiner Meinung nach nicht mehr zu diesem Satz gut gepasst hat. Welche Erlebnisse waren das?
  • Martin sagte zu ihm: „Kein Mensch muss alles können!“ Wann ist dieser Satz für einen Menschen wohl besonders wichtig?

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