Mit Martin Luther auf Reisen 

Theologisches Intermezzo mit Anregung zum Theologisieren mit Kindern und Erwachsenen: Was ist mir der christlichen Freiheit gemeint?

Vorbemerkungen

Zur Einführung der Reformation in den Städten und Gemeinden mussten entsprechend ausgebildete Pfarrer berufen und Kirchenordnungen erstellt werden. Dazu waren Luther und Melanchthon in sogenannten Visitationen viel unterwegs. Mit ihnen überzeugten sie sich vom Stand der Entwicklungen. Die dabei gemachten Erfahrungen waren aber oft sehr ernüchternd: Missverständnisse der neuen theologischen Prinzipien, mangelhafte religiöse Bildung der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen machten deutlich, dass hier noch viel zu tun war. Da war in besonderer Weise Melanchthon gefragt, als Schulgründer und Verfasser von auch für Laien gut verständlichen Präzisierungen der reformatorischen Botschaft.

In der folgenden Erzählung wird dies am Beispiel des differenzierten Verständnisses des Gesetzesbegriffs vor Augen geführt. Luthers reformatorische Entdeckung war der Glaube als befreiendes Gottesgeschenk, das nicht länger durch Frömmigkeitsleistungen und mit ihnen verbundene gute Taten erarbeitet werden musste. Wie aber sollte sich da eine evangelische Ethik entwickeln, die ernsthaft, anspruchsvoll und auch fordernd sein konnte, ohne ein Rückfall in die überwundenen Zwänge zu sein? Wie konnte die Freiheit zum Zwang zu guten Taten mit der dankbaren Bereitschaft zu guten Taten verbunden werden? Melanchthon hat hier mit seinem dreifachen Gesetzesverständnis hilfreiche Wege gewiesen. Das ist der theologisch-geschichtliche Hintergrund für Gespräche der Kinder zur Erzählung. In ihnen können alle Beteiligten mithelfen, die damaligen Leitgedanken in heutige Lebenssituationen zu übertragen.

 

Erzählung

Kaum sind die Unruhen in Wittenberg zum Glück bald wieder vorbei, da warten schon neue Aufgaben. Nicht nur in Wittenberg, sondern auch in anderen Städten haben sich Menschen der neuen Lehre angeschlossen. An die Stelle der altgläubigen Priester sind Pfarrer getreten, die bei Luther und Melanchthon studiert haben. Mönche und Nonnen haben ihre Klöster verlassen. Es gibt da so viel neu zu ordnen und zu regeln. Wie sollen die Gottesdienste jetzt gestaltet werden? Wer bezahlt den Lebensunterhalt der Pfarrer? Was geschieht mit den leer gewordenen Klöstern? Sind die Predigten auch wirklich im Sinne der neuen Lehre? Oft gibt es auf der Suche nach guten Regelungen Streit. Immer wieder machen sich Martin Luther und Philipp Melanchthon auf den Weg, um solchen Streit zu schlichten und nach dem Rechten zu sehen.

Auch heute waren sie wieder unterwegs, in einer kleinen Stadt. Sie hatten Gespräche mit Bürgermeister, Stadträten, Pfarrer und Gemeindemitgliedern geführt und sind nach einem anstrengenden Tag wieder auf der Heimreise in der Kutsche.

Martin schüttelt immer wieder den Kopf und sagt: „Erinnerst du dich, wie sich einige in der Gemeinde auf meine Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen berufen haben? ‚Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan‘, das habe ich geschrieben. Das haben sie gelesen und zu mir gesagt: ‚Wir brauchen uns jetzt nicht mehr an die Gesetze halten, keine Steuern mehr bezahlen‘. Mit meinen eigenen Worten haben sie das begründet und mich doch so völlig falsch verstanden!“ Wieder schüttelt er den Kopf. „Den anderen Satz von mir haben sie übersehen: ‚Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan‘. Beides gehört doch zusammen!“ Wieder schüttelt er unwillig den Kopf. „Und da sitzt der Pfarrer mehr im Wirtshaus als in seinem Pfarrhaus oder in der Kirche und sagt: „Das ist meine Freiheit, die mir Doktor Luther geschenkt hat“.

Philipp meint dazu: „Es ist gar nicht so einfach, die beiden Sätze, die so nebeneinander stehen, gut zu verstehen. Was heißt es, gleichzeitig ein freier Herr und ein dienstbarer Knecht zu sein? Ich habe mir die Antwort so zurechtgelegt: Das Gesetz ist unter drei Gesichtspunkten zu verstehen. Es sind drei unterschiedliche Bedeutungen von Gesetz zu beachten. Es ist erstens das Gesetz gemeint, das uns bedrückt und Angst macht, weil wir es nicht ausreichend erfüllen können. Es ist das Gesetz eines Gewissens, das so streng ist, dass es einen zur Verzweiflung treibt, weil man ständig an den hoch gesteckten Zielen scheitert. Es ist das Gesetz des Menschen, der sich zum Ziel gemacht hat, der beste Mensch zu sein und es doch nicht erfüllen kann. Es ist das Gesetz einer Liebe, die man sich verdienen muss und es doch nicht schafft. Aber Gott hasst uns nicht, wenn wir Fehler machen und versagen, wenn uns Schuldgefühle zurecht drücken.“

Martin nickt: „Ja, dieses Gesetz habe ich durchlitten, als ich mich geschunden und gequält habe, um vor den strengen Augen Gottes ein wirklich guter Mensch zu sein. Nie wieder möchte ich unter dem Knüppel dieses Gesetzes leben, und alle anderen sollen es auch nicht“.
Philipp nickt: „Genau. Freiheit ist die Freiheit von der Angst und Verzweiflung, von einem ewig quälenden Gewissen.

Aber das Gesetz hat auch eine zweite Bedeutung. Gemeint sind damit auch die Gebote, auch die Gesetze, mit denen ein Land regiert wird. Es sind die Gesetze, die in den Gesetzbüchern stehen. Sie sind dazu da sind, damit Menschen gut miteinander auskommen. Das ist das Gesetz der Pflichten, die jeder erfüllen muss, damit das Zusammenleben gut gelingt. Gott will auch, dass Menschen Verantwortung für sich und andere übernehmen, dass sie nicht lügen, stehlen, betrügen, sondern mithelfen, dass es allen gut gehen kann. Das haben die Leute, mit denen wir gestern gesprochen haben, nicht unterschieden. Freiheit von der Angst und Verzweiflung, es Gott und anderen Menschen niemals recht machen zu können, ist etwas anderes als die Pflicht, sich an gute Regeln für das Zusammenleben zu halten“.

„Aber ist das alles?“ fragt Martin zurück. „Um ein ordentlicher Mensch zu sein, der seine Pflichten erfüllt, brauche ich keinen Glauben. Dazu reicht das Gesetzbuch in unserem Land. Dazu genügt auch ein bisschen Angst vor der Strafe, die der Richter verhängen kann. Die Nächstenliebe kommt darin noch nicht vor. Die kann man auch nicht vorschreiben“.

„Genau“, sagt Philipp. Darum gibt es auch eine dritte Bedeutung von Gesetz. Es ist das Gesetz der Liebe, das Gesetz der Dankbarkeit für das Gute, das wir empfangen haben, für das wir Gott danken. Es ist die Dankbarkeit, die Lust macht, das Gute auch weiterzugeben an andere. Es ist das Gesetz eines von Angst befreiten und aufmerksamen Gewissens, das mich freundlich zupft, bei mir anklopft und sagt: Denk daran, was du tun kannst, damit es auch anderen gut geht. Freu dich über all das, das Gott dir schenkt und dir gelingen lässt und teile deine Freude auch mit anderen. Denk darüber nach, was anderen helfen kann. Das will auch Gott. Sei ein Diener für andere, so wie es auch Jesus war! Schau hin und lass dich von deinem Gewissen mahnen und überlege, wo du anderen helfen kannst – so wie es der barmherzige Samariter in der biblischen Geschichte getan hat. Nächstenliebe ist mehr als bloße Beachtung von Vorschriften. Nächstenliebe heißt auch, dankbar und freiwillig Gutes zu tun“.

Martin wendet ein: „Diesen dritten Sinn des Gesetzes muss man gut schützen. Er darf nicht wieder zum Druck werden, der Angst macht und Verzweiflung bringt. Er darf auch nicht dazu führen, dass man sich mit dem begnügt, was die Gesetze vorschreiben. Die dankbare Nächstenliebe gehört zu unserem Glauben dazu und darf nicht verschwinden“.

Eine Weile denken die beiden für sich weiter. Dann sagt Martin: „Philipp, was du da gerade erklärt hast, das ist wieder ein gutes Beispiel dafür, wie gut du den Dingen auf den Grund gehen und verschiedene Bedeutung auseinanderfalten kannst. Dafür bewundere ich dich“. Philipp bedankt sich mit einem freundlichen Nicken und sagt: „Wir sollten jetzt auch noch gut überlegen, was wir dafür tun können, dass in unseren Gemeinden kluge Leute Pfarrer werden. Das fängt schon bei den Kindern an. Eltern sollen sich im neuen Glauben gut auskennen, damit sie viel davon an ihre Kinder weitergeben. Wir brauchen auch gute Schulen und Lehrer, die mit Weisheit und Liebe die Kinder unterrichten. Schulen sollten neben den Kirchen die wichtigsten, edelsten Häuser sein, in denen das Lernen Freude macht. Wir brauchen auch gut ausgebildete Leute, die den Pfarrern und Lehrern bei ihren Aufgaben helfen können. Sie brauchen Hilfe damit sie mit Fleiß, Verstand, Liebe und festen Glauben anderen zeigen können, wie Glaube und Leben, gute Worte und gute Taten zusammengehören. Das ist auch mit der dritten Bedeutung des Gesetzes gemeint“.

Philipp hat sich richtig in Fahrt geredet. Martin hat ihm aufmerksam zugehört und antwortet: „Philipp, mir wird immer klarer: Du bist der Lehrer der Reformation. Und du kannst anderen helfen, selbst gute Lehrer zu werden. Das kann niemand so gut wie du“. Philipp ist noch ganz bei dem was er vorher gesagt hat und meint: „Wenn ich nach Hause komme, fange ich gleich damit an, ein neues Buch zu schreiben. Ach was, es müssen gleich zwei sein. Eines für diejenigen, die Pfarrer und Lehrer mit vielen Ratschlägen begleiten, worauf sie achten sollen. Das zweite wird ein Buch für Eltern, damit sie für ihre Kinder gute Lehrer sein können“.

Martin nickt. „Und ich schreibe einen eindringlichen Brief an die Ratsherren der Städte, damit sie ihre Steuereinnahmen nicht nur für teure Schlösser, Kanonen, Straßen ausgeben, sondern noch viel mehr als bisher für gute Schulen. Das muss schon sehr energisch klingen, vielleicht so: ‚Liebe Herren, muss man jährlich so viel aufwenden für Schießwaffen, Wege, Stege, Mauern und sonst noch unzählige Dinge, damit eine Stadt Frieden und Ruhe haben kann – warum sollte man nicht ebenso viel aufwenden für die bedürftige, arme Jugend, indem man geeignete Personen als Schullehrer unterhält?‘ Philipp, was meinst du dazu?“ Der lacht und sagt: „Wenn ich der Lehrer der Reformation bin, dann bist du der Antreiber der Reformation“. Und Martin antwortet: „Wir sollten öfter gemeinsam auf Reisen gehen. Da kommen uns in der Kutsche die besten Ideen“.

 

Gesprächsanregungen

  • Philipp Melanchthon hat seine Erklärungen zu den drei Bedeutungen des Gesetzes vor 500 Jahren zur Sprache gebracht. Welche dieser Bedeutungen erscheinen dir auch heute noch bedenkenswert?
  • Wo kommen diese drei Bedeutungen auch in deinem Leben vor?
  • Welche anderen Worte als „Gesetz“ könnten zu den drei Bedeutungen passen?
  • Was würde dir fehlen, wenn es die eine oder andere dieser drei Bedeutungen nicht gäbe?
  • Sind die Bedeutungen immer gleich wichtig, oder haben sie in unterschiedlichen Lebenslagen unterschiedliche Bedeutung?
  • An welche Lebenslagen denkst du dabei?

Zurück zu Philipp Melanchthon