Vorüberlegungen

Die beiden Zentren der Reformation sind Wittenberg mit Luther samt seinen Mitstreitern auf der einen Seite und Zürich bzw. später Genf mit Zwingli und dessen Schweizer Gefährten auf der anderen. Dazwischen stehen im Süden des Deutschen Reichs die Freien Reichsstädte mit ihren je eigenen Positionierungen zwischen diesen Zentren. Neben Nürnberg ist Straßburg die bedeutendste der evangelisch gewordenen Reichsstädte. Zu den dort wirkenden Reformatoren Wolfgang Capito, Caspar Hedio, Matthäus Zell (seiner Ehefrau Katharina ist eine eigene Erzählung gewidmet) tritt Martin Bucer und entwickelt sich bald zur führenden Persönlichkeit in diesem Kreis. Sei Wirken reicht weit über Straßburg hinaus. Mit seiner hohen Dialogfähigkeit wird er in den Zeiten der auf Einheit zielenden Religionsgespräche sogar zur wichtigsten Person im Reformationsgeschehen.

Die Erzählung nimmt noch mehr als die vorangegangenen Reformationsgeschichten gezielt theologische Fragestellungen auf, die Bucers reformatorisches Engagement kennzeichnen. Deshalb sind die Zielgruppen dieser Erzählung vor allem Jugendliche und Erwachsene, die an einem weiten Blick für das Reformationsgeschehen interessiert sind. Das gilt auch für die Gesprächsanregungen im Sinne von Rückblicken auf Bucers Wirken und Ausblicken auf Konsequenzen für uns heute.

Martin Bucer kommt 1491 (acht Jahre und einen Tag nach Martin Luther) in der alten elsässischen Reichsstadt Schlettstatt (heute Sélestat) zur Welt und wächst in sehr bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen auf. Sein Vater schickt ihn bald auf die Lateinschule – dort beginnt sein erfolgreicher Bildungsweg im Sinne des neuen humanistischen Denkens. Mit 16 Jahren wird er zum Eintritt ins Kloster gedrängt, neun Jahre später zum Priester geweiht. Er studiert Theologie in Heidelberg und Mainz und erlangt die Doktorwürde. In Heidelberg begegnet er 1518 erstmals Martin Luther und ist von ihm zutiefst beeindruckt, wird aber in seiner Theologie durchaus eigene Akzente setzen.

Er erreicht die Lossprechung von seinem Klostergelübde, heiratet 1522 Elisabeth Silbereisen. Mit ihr hat er dann 13 Kinder, die jedoch alle im Kindesalter sterben. Er plant ein Studium in Wittenberg, bleibt aber in der Freien Reichsstadt Weissenburg im Elsass hängen und wirkt dort als reformatorischer Prediger. Als Unruhen ausbrechen, wird er exkommuniziert und flieht mit seiner schwangeren Frau nach Straßburg. Immer deutlicher wird ihm dort seine reformatorische Vision für diese Stadt, die zu seiner neuen Heimat wird: In ihr soll der Geist Jesu Christi regieren, im gleichgesinnten Zusammenwirken von Rat der Stadt und den kirchlichen Gemeinden. Dafür kämpft er mit Worten und Schriften – allerdings mit für ihn unbefriedigendem Erfolg.

Mit den schon im Vorfeld des Augsburger Reichstags 1530 kirchenpolitisch gebotenen Einigungsbestrebungen im reformatorischen Lager erreicht Bucer trotz enttäuschender Rückschläge und mit immensem Aufwand an Kraft und Zeit doch entscheidende Schritte der Verständigung. Dabei wird ihm Philipp Melanchthon mit ähnlichen Intentionen und Fähigkeiten immer mehr zum verbündeten Mitstreiter. Mit ihm zusammen kommt es auch zu wegweisenden, aber dann doch gescheiterten Einigungsbemühungen mit dem Kölner Erzbischof. Seine Annäherungen an spezifisch lutherische Positionen führt allerdings auch zum Zerbrechen der Freundschaft mit den Schweizer Glaubensbrüdern.

Als 1541 Bucers Ehefrau Elisabeth stirbt, heiratet er auf deren Wunsch hin Wibrandis Rosenblatt, die Witwe seines Straßburger Mitreformators Capito. Die militärische Niederlage der protestantischen Verbündeten 1547/48 und die sich daraus ergebenden Rekatholisierungsaktivitäten zwingen Bucer mit Wibrandis und ihren Kindern zur Flucht aus Straßburg. In Cambridge lehrt er dann Theologie, wird aber nicht heimisch und stirbt dort 1551 im Alter von 60 Jahren – weitab von den kirchenpolitischen Ereignissen im Deutschen Reich.

Der erste Erzählteil berichtet von Bucers Ankunft in Straßburg als Flüchtling. Er führt auch in die dortigen kirchenpolitischen Verhältnisse im Spannungsfeld von Bischof, Rat der Stadt, reformatorischen Predigern und Stadtbevölkerung ein. Mit einem Rückblick auf die Zeit in Weissenburg bekommt das reformatorische Programm Bucers erste Konturen: Die Entdeckung des Glaubens als voraussetzungsloses Gottesgeschenk muss in der praktizierten Nächstenliebe ihren Ausdruck finden.

Der zweite Teil erzählt, wie Martin Bucer zu seiner ersten Pfarrstelle in Straßburg kommt und damit endgültig im Straßburger Reformationsgeschehen Fuß fasst. In seinem reformatorischen Denken und Handeln tritt der zweite große Schwerpunkt ins Blickfeld: Jede einzelne Person soll ihren eigenen Zugang zur biblischen Botschaft gewinnen. Die so entstehende Vielfalt braucht andererseits die Zeichen und Fundamente der Einheit, der Verbundenheit in der gemeinsamen Basis.
Das sind Gedanken, die in unsere Gegenwart hinein weisen, vom Theologisieren mit Kindern bis zu der im Reformationsjubiläum ausdrücklich bedachten Frage „Was ist evangelisch?“ und weiter zum ökumenischen Gespräch und auch zum interreligiösen Dialog.

Der dritte Erzählteil führt uns dann hinein in die kirchenpolitischen Einigungsbemühungen, für die sich Bucer so unermüdlich bis an die Grenzen seiner außergewöhnlich großen Arbeitskraft eingesetzt hat. In seinen großen Zielen muss er immer wieder Abstriche machen, sie auf realistisches Maß zurechtstutzen. Aber er gibt nicht auf, bis 1536 das Ergebnis der „Wittenberger Konkordie“ erreicht ist.

 

Erzählung – Teil 1: Martin Bucer kommt als Flüchtling in Straßburg an

An einem Abend im Mai 1523 treffen sich im Pfarrhaus des Straßburger Münsterpredigers Matthäus Zell wieder einmal interessierte Männer und Frauen zu einem Bibelgespräch. Mit den neuen Predigern in Straßburg hat die von Martin Luther und den anderen Reformatoren wiederentdeckte Botschaft auch in dieser Stadt Einzug gehalten. Es ist das Evangelium von dem uns freundlich zugewandten Gott - verbunden mit dem Auftrag, sorgfältig auf die Worte der Bibel zu achten. Seither kommen viele Straßburger Bürger neben den Predigten auch zu Bibelgesprächen zusammen, um möglichst viel von den neuen Gedanken zu erfahren. Matthäus Zell erklärt den Sinn der biblischen Worte. Dann bedenken alle gemeinsam, was das für ihr Leben und das Miteinander in der großen Stadt Straßburg bedeuten könnte.

Durch das Klopfen an der Haustür werden sie unterbrochen. Matthäus Zell öffnet sie und sieht vier Personen vor sich, zwei Männer und zwei Frauen. In der einsetzenden Dämmerung kann er die Gesichter nicht recht erkennen und zögert. Da sagt einer der Männer: „Wir sind Flüchtlinge und kommen aus Weissenburg im Elsass“. Jetzt antwortet Pfarrer Zell sogleich: „Dann seid Ihr wohl Martin Bucer. Ihr wurdet uns schon angekündigt“. Der Angesprochene nickt und zeigt auf seine Begleiter: „Das ist Prediger Heinrich Motherer, auch aus Weissenburg“, und mit einer Geste auf die beiden Frauen: „Das sind unsere Ehefrauen“. „Kommt herein, Ihr seid bei uns herzlich willkommen“, sagt Matthäus Zell. „Ihr könnt vorerst bei uns im Haus bleiben. Ruht Euch erst einmal aus, esst und trinkt. Ich gehe jetzt wieder hinüber zu meinem Bibelgesprächskreis“.

Bald darauf tritt dort auch Martin Bucer ein und meint: „Die Gelegenheit, etwas von der Reformation in dieser Stadt kennenzulernen, möchte ich mir nicht entgehen lassen“. Pfarrer Zell antwortet: „Und wir können gleich etwas von Euch über die Reformation in Weissenburg erfahren“. Diesen Auftrag nimmt Martin Bucer gerne an und berichtet: „Als ich vor einigen Monaten in Weissenburg ankam, hatte Pfarrer Motherer mit seinen Predigten im Sinne der neuen reformatorischen Lehre schon viel erreicht. Ich habe ihn gerne bei seiner Arbeit unterstützt. Auch im Rat der Stadt fanden wir bei einigen Mitgliedern Zustimmung. Wir predigten, dass Gottes Liebe zu uns Menschen ein Geschenk ist, das nicht verdient oder gar bezahlt zu werden braucht. Etliche unserer Zuhörer nahmen uns beim Wort, gingen zu den Klöstern und forderten zurück, was sie an Geld gestiftet hatten. ‚Ihr habt uns angelogen‘, riefen sie den Mönchen zu. ‚Ihr habt uns gesagt, dass wir mit unseren Spenden für euer Kloster Gott gnädig stimmen können. Aber die Bibel lehrt uns etwas anderes!‘ Einige bedrohten die Mönche und Nonnen und wollten sich mit Gewalt das Gespendete zurückholen. Aber das fügte der Reformation in Weissenburg schweren Schaden zu. Der Rat befürchtete Unruhen in der Stadt und wollte uns nicht mehr in der Stadt haben. Was wir in Weissenburg verändern wollten, ist uns leider misslungen. Der päpstliche Beauftragte Aleander befahl dem Bischof, uns aus der Gemeinschaft der Kirche auszustoßen. So blieb uns zuletzt nur noch die Flucht aus der Stadt“.

Aufmerksam hören die Frauen und Männer zu. Dann meint einer: „Ich kann die Ratsmitglieder sogar verstehen. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass das Leben in der Stadt seine gute Ordnung hat. Gewalt gehört da nicht dazu“. Ein anderer erwidert: „Eigentlich haben die Leute doch nichts Unrechtes getan, als sie ihr Geld zurückforderten“. Matthäus Zell sagt: „Aber wir sollten nicht vergessen, dass zur Botschaft von Gottes Liebe zu uns auch die Aufforderung zur Nächstenliebe gehört. Gewalt passt da nicht dazu“. Martin Bucer nickt zustimmend: „Als Gemeinde Jesu Christi haben wir allen Menschen in der Stadt zu zeigen, dass Gottes Liebe auch unser Miteinander und Zusammenleben bestimmt. Das haben wir in unseren Predigten laut und deutlich zu sagen. Was in Weissenburg geschah, ist mir da zu einer Lehre geworden“. Einer aus der Runde schlägt noch vor: „Matthäus Zell und Martin Bucer, Ihr passt gut zusammen. Ihr beide könnt viel dazu beitragen, dass es mit der Reformation in unserer Freien Reichsstadt Straßburg gut vorangehen kann“. Ein anderer schlägt vor: „Um Euch, Pfarrer Bucer, kennenzulernen, solltet Ihr noch ein bisschen von Euch erzählen“.

Martin geht gerne darauf ein und berichtet: „Als Mönch habe ich Theologie studiert und bin zum Priester geweiht worden. Als Martin Luther vor fünf Jahren in Heidelberg mit anderen Professoren theologische Gespräche zu seiner neuen Sicht des Glaubens führte, da war ich auch dabei. Ich war zutiefst beeindruckt von diesem Mann und von seiner Kraft, in der er seine Überzeugung verkündete. Zwei Jahre später verließ ich den Orden. Auf dem Reichstag in Worms erlebte ich Luther, wie er mutig vor dem Kaiser und den Fürsten des Reichs seinen neuen Glauben vertrat. In der folgenden Zeit wurden die reformatorischen Gedanken immer mehr zu meiner eigenen geistigen und religiösen Heimat. Sie machten mich frei von den Zwängen des alten Glaubens. Besonders wichtig war mir dabei stets, wie diese Freiheit auch für andere in den Zeichen der Nächstenliebe sichtbar werden kann“. Und dann berichtet er noch: „Vor einem Jahr heiratete ich Elisabeth, die vorher als Nonne in einem Kloster lebte. Gemeinsam kamen wir nach Weissenburg, und gemeinsam jetzt sind wir hier“.

„Ihr wisst schon“, meint einer der Besucher des Abends, „dass es für die Altgläubigen in unserer Stadt kaum zu ertragen ist, wenn ein Priester eine Nonne heiratet. Denn das widerspricht den Gesetzen der Kirche ganz und gar. Martin Bucer antwortet: „Die Gesetze des neuen Glaubens sind Gesetze des liebevollen Miteinanders. Das fängt in der Ehe und Familie an und führt weiter zu einem guten Geist des Miteinanders in der Stadt. Dazu möchte ich gerne meinen Teil beitragen“.

Einige Tage später machen sich Matthäus und Martin auf den Weg zum Rathaus. Martin will den Antrag stellen, das Bürgerrecht der Stadt zu bekommen. Matthäus will ihn dabei unterstützen, denn beide spüren immer deutlicher, dass sie als Prediger in der Stadt gut zusammenpassen. Als sie das Rathaus wieder verlassen, ist Martin enttäuscht. Sein Antrag an den Rat wird höchstwahrscheinlich abgelehnt werden, hieß es. Ein mit einer Nonne verheirateter Priester, das bringt unnötigen Ärger mit dem Bischof. Der Rat unterstützt zwar die Reformation, aber oberstes Gebot ist es, Friede und Ordnung in der Stadt aufrecht zu erhalten.

Matthäus ermuntert Martin: „Da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Lass dem Rat Zeit. In ein paar Monaten sieht vielleicht alles wieder anders aus. In der Zwischenzeit genießt du in meinem Haus das Gastrecht. Ich lade dich ein, Vorträge zur Bibel zu halten“. Und dann meint er noch: „Der Rat will auf jeden Fall Unruhe in der Stadt vermeiden. Es soll nicht so weit kommen wie bei euch in Weissenburg“.

Sie kommen gerade durch das Handwerkerviertel mit den kleinen, einfach gebauten Häusern, in denen Wohnung und Werkstatt Wand an Wand beieinander liegen. „Wir haben gerade hier viel Unzufriedenheit unter den Leuten“, sagt Matthäus. „Die kleinen Handwerker haben wenige Möglichkeiten, Meister zu werden, Ansehen zu gewinnen und eine Familie zu gründen. Und haben sie es trotzdem geschafft, müssen sie ihre Waren zu so niedrigen Preisen an die großen Handelsfirmen verkaufen, mit denen sie selbst kaum über die Runden kommen. Immer wieder schaut ihnen die Armut zum Fenster herein. Und dann erleben sie gleichzeitig, wie die Priester und andere Mitarbeiter der Kirche ihre Sonderrechte haben: Sie müssen keine Steuern zahlen Sie leben reichlich von den Spenden. Sie haben ihre eigenen Gesetze , mit denen sie nur dem Bischof untertan sind. Das schürt Missgunst, Ärger und viel Wut.

Martin hört aufmerksam zu, und Matthäus erklärt weiter: „Dem Rat wäre es auch recht, er könnte rasch mit der Einführung der Reformation diese bischöflichen Sonderrecht abschaffen. Aber der Bischof hat eben auch Macht. Er kann sich auf den Kaiser berufen, der die Reformation ablehnt. Das ist alles gar nicht so einfach“. Martin meint nachdenklich: „Unser Ziel müsste doch sein, dass mit unseren Predigten der Geist der Nächstenliebe wächst. Er kann die Menschen in der Stadt miteinander verbinden und freundlich auch die Altgläubigen in diese Gemeinschaft mit hereinholen“. Matthäus nickt und meint dazu: „Das braucht freilich viel Geduld und einen langen Atem. Aber wenn wir diesen Weg in kleinen Schritten gehen, kann uns mit Gottes Hilfe sicherlich viel gelingen“.

Die beiden sind beim Münster angekommen und treten ein. Sie stehen in der unglaublich hohen Kirchenhalle und werden still. Dann gehen sie langsam durch das Haupt- und auch die Seitenschiffe. Dabei kommen sie zu einem hölzernen Gestell, das wie eine Kanzel aussieht. „Was ist denn das?“ fragt Martin erstaunt. „Das ist neuerdings meine Kanzel“ meint Matthäus schmunzelnd. Und auf Martins fragendes Gesicht erklärt er: „Der Bischof hat mir Redeverbot auf der Münsterkanzel auferlegt. Da haben mir Männer der Gemeinde diese Kanzel gebaut. Es ist nicht die Münsterkanzel, und deshalb kann ich ungestraft auf ihr predigen“. „Und was meint der Rat dazu?“ fragt Martin. „Der steht zu mir“, antwortet Matthäus. „Er vertraut mir, dass auch ich Unruhe vermeiden will. Zu den kleinen Schritten der Reformation gehören freilich auch kleine Nadelstiche gegen die kirchliche Obrigkeit. Jetzt ist die Zeit, in der unsere Predigten die Reformation voranbringen. Ich werde mich auch dafür einsetzen, dass du bald mit dabei bist“ Und dann beugt er sich noch nah zu Martin hin und sagt leise: „Einen kräftigen Nadelstich wird unser Bischof in diesem Jahr noch hinnehmen müssen. Katharina Schütz und ich wollen noch im Dezember dieses Jahres heiraten. Und du sollst der Pfarrer sein, der uns im Hochzeitsgottesdienst segnet!“ Jetzt weiß Martin, dass er in Matthäus einen Freund gefunden hat, mit dem zusammen ihm die Verkündigung der frohen Botschaft in der großen Stadt Straßburg besondere Freude bereiten wird.

Gesprächsanregungen

  • In Weissenburg ist der Versuch, die Reformation einzuführen, zunächst gescheitert. Was ist eurer Meinung nach dort schief gelaufen?
  • Martin Bucer hat sein eigenes Verständnis von der Reformation als Ausbreitung des Evangeliums. Er spürt hier auch die Zustimmung von Matthäus Zell. Was ist den beiden besonders wichtig?
  • Was spricht für, was gegen die Idee, Straßburg zu einer evangelischen Stadt zu machen?
  • Als Flüchtling ist Martin Bucer nach Straßburg gekommen, Die ersten Schritte zum Heimischwerden in dieser Stadt hat er schon getan. Welche sind es eurer Meinung nach? Welche müssten noch folgen?

 

Erzählung – Teil 2: Martin Bucer gestaltet die Reformation in Straßburg mit

St. Aurelien ist ein Vorort von Straßburg. Viel weniger und kleinere Häuser stehen dort als in der Mitte der Stadt mit ihren prächtigen Bürgerhäusern. Zwischen den Häusern sind Felder, auf denen Kleinbauern Gemüse und Obst anbauen, das sie dann auf dem Markt der Stadt verkaufen. Sie gehören zur Zunft der Gärtner. Im Kreis der Straßburger Handwerkerzünfte hat die allerdings keine große Bedeutung. Die Gärtner verdienen nicht viel, noch weniger als die meisten anderen. Deswegen werden sie von denen nur wenig geachtet.

Im August des Jahres 1524 - also dem Jahr nach Bucers Ankunft in Straßburg - wird in St. Aurelien ein ganz besonderes Fest gefeiert. Liebevoll haben die Gärtner ihre Kirche geschmückt. Denn seit heute ist Martin Bucer ihr Prediger, den sie sich gewünscht und mit viel Mühe erkämpft haben. Über ein halbes Jahr hat es gedauert, bis es endlich soweit war. Sie hatten Pfarrer Bucer bei Predigten in der Stadt kennengelernt und waren sich bald einig: der ist der Richtige für uns. Immer wieder erklärt der Sprecher der Gärtner hinzugekommenen Gästen geduldig und auch stolz den langen Weg bis zum heutigen Tag: „Wir hatten schon im Februar Pfarrer Bucer zu einer Predigt bei uns hier in St. Aurelien eingeladen. Dann haben wir beim Rat der Stadt den Antrag gestellt, ihn zu unserem Prediger zu ernennen. Wir waren auch bereit, ihm ein Pfarrhaus zur Verfügung zu stellen und für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie zu sorgen. Aber der Rat hat abgelehnt: ‚Einen aus der Kirche ausgestoßener und verheirateter Priester zu berufen, das geht nicht. Es ist schon genug, dass wir ihm großzügig das Bürgerrecht zuerkannt haben‘. Aber wir haben nicht locker gelassen und die Hauptprediger der Stadt, die Pfarrer Zell, Capito und Hedio haben uns kräftig unterstützt. Wir freuen uns, dass wir unser Ziel erreicht haben“. Die genannten Pfarrer sind natürlich auch da und feiern mit.

An einem der folgenden Tage trifft sich die Gruppe der Straßburger Reformatoren wieder einmal zu einer ihrer regelmäßigen Besprechungen. Martin Bucer ist nun auch dabei. „Was in St. Aurelien geschehen ist“, eröffnet Wolfgang Capito das Gespräch, „das zeigt uns deutlich, wie es seit einem Jahr mit der Reformation in unserer Stadt gut vorangegangen ist. Vor allem die sogenannten ‚kleinen Leute‘ sind es, denen die frohe Botschaft der Bibel Hoffnung gibt“. Er wendet sich Martin zu und meint: „Dazu hast du, Martin, viel beigetragen“. Martin nickt und antwortet: „Es ist nicht unser Verdienst, sondern das Zeichen, dass der Heilige Geist am Wirken ist. Unsere Aufgabe ist es, Hindernisse wegzuräumen, die diesem Wirken im Wege stehen“.
Die anderen schauen ihn fragend an, und er redet weiter: „Unsere Brüder und Schwestern sollen erleben, dass sie selbst die Worte der Bibel gut verstehen und

entdecken können. Sie sollen entdecken, wie sie zu ihrem Leben passen. Wir brauchen viele Gelegenheiten zu guten Gesprächen, in denen sich die Menschen über ihre Bibel-Entdeckungen austauschen können“. „Und was ist unsere Aufgabe bei diesen Gesprächen?“ fragt Caspar Hedio. Martin antwortet: „Erstmal gilt es zu ertragen, dass es verschiedene Meinungen über die Bedeutung von Bibelworten gibt. Wir können sodann dabei helfen, das Gemeinsame in der Vielfalt zu finden und zu benennen. Denn in den verschiedenen Meinungen soll es doch immer um die befreiende Botschaft des Glaubens gehen, nämlich um das Geschenk, von Gott geliebt zu sein, so wie wir sind. Es ist die Erfahrung, dass Jesus Christus mitten unter uns ist. Und es ist auch die Aufgabe, allen zu zeigen, wie Christen aus der Dankbarkeit heraus Nächstenliebe üben. An ihr soll man den Glauben erkennen. Ich wünsche und hoffe, dass unsere Stadt Straßburg in diesem Sinne zu einer christlichen Stadt wird. In dem so gelebten Glauben an Jesus Christus soll sie ein Vorbild für alle anderen Städte sein“.

Martin hat sich richtig in Fahrt geredet. Die anderen haben aufmerksam zugehört und denken still über das Gesagte nach. Dann sagt Matthäus Zell: „Du hast in wenigen Sätzen ein Gesamtprogramm für unsere Straßburger Reformation entworfen. Das ist gewaltig. Ich fange mal mit dem Ersten an: In der Vielfalt das Gemeinsame zu finden, das kannst du mit Sicherheit von uns allen am besten“. Die anderen nicken zustimmend. Dann fährt Matthäus fort: „Unser Rat der Stadt war ja schon immer ziemlich großzügig gegenüber Flüchtlingen, die wegen ihres Glaubens ihre Heimat verlassen mussten. Das soll so bleiben. Diese Freiheit gilt es zu schützen – das ist die Aufgabe des Rats. Sie soll aber stets unter dem weiten Dach unseres gemeinsamen christlichen Glaubens gedeihen – dieses Gemeinsame in unseren Predigten klar zu sagen, das ist unsere Aufgabe“.

„Gilt dieses Zusammenwirken von Rat und Predigern auch für die Taten der Nächstenliebe?“ fragt Caspar Hedio. Martin antwortet: „Unsere Aufgabe ist es, nachdrücklich auf diese Taten hinzuweisen, sie auch einzufordern. Wer mit Hartherzigkeit den Glauben verleugnet, muss auch gemahnt werden. Und die Aufgabe des Rats ist es, Gebote der Nächstenliebe zu guten Verordnungen und Gesetzen zu machen, die für alle gelten“. Wolfgang Capito meint: „Das stelle ich mir schwierig vor. Kann man denn Nächstenliebe zu einem Gesetz machen? Kann man sie befehlen? Zerstört das nicht die Freiheit des Glaubens? Soll man dann Menschen bestrafen, die hartherzig gegenüber anderen sind? Ich habe da meine Zweifel“.

Noch lange denken die vier über Martins Pläne für die Reformation in Straßburg nach.

 

Gesprächsanregungen

  • Warum wohl haben sich die Gärtner von St. Aurelien gerade Martin Bucer als ihren Prediger gewünscht?
  • Der Rat der Stadt hat sich lange dagegen gewehrt. Dafür gab es bei ihm wichtige Gründe.
  • Was wäre euch als Mitglieder des Rats besonders wichtig gewesen? Wofür hättet ihr euch eingesetzt?
  • Martin hat seinen Freunden erklärt, was ihm für die Reformation in Straßburg besonders wichtig ist. An was erinnert ihr euch? Was würdet ihr gerne an die erste Stelle setzen?
  • Martin hat sich auch zur Aufgabenverteilung zwischen dem Rat und den Predigern Gedanken gemacht. Könnt ihr euch daran erinnern? Wie beurteilt ihr diese Aufgabenverteilung?
  • Kann man christliche Nächstenliebe anordnen? Dazu gab es im Kreis der Straßburger Reformatoren unterschiedliche Meinungen. Was spricht eurer Meinung nach dafür, was dagegen?

 

Erzählung – Teil 3: Martin Bucer auf dem Weg der Verständigung zwischen unterschiedlichen evangelischen Traditionen

Fünf Jahre später – es ist das Jahr 1529 – wird Bucer zu einem Gespräch ins Rathaus eingeladen. Der Bürgermeister und einige der Räte erwarten ihn. Der Bürgermeister eröffnet das Gespräch: „Doktor Bucer, Ihr habt viel dazu beigetragen, dass wir nun auch mit einer mutigen Erklärung des Rats zur evangelischen Stadt geworden sind. Euer Werben um den geschwisterlichen Geist der Nächstenliebe hat gute Früchte gebracht. Das hat sich auch über unsere Stadt hinaus herumgesprochen“. Martin wartet gespannt darauf, was der Bürgermeister nun weiter sagen wird. Der fährt fort: „Im Blick auf den neuen Glauben sind wir ja eng mit der Züricher Reformation und ihrem Leiter Ulrich Zwingli verbunden“. Martin nickt zustimmend. Der Bürgermeister spricht weiter: „Und so haben wir ja auch mit den evangelisch gewordenen Schweizer Städten Zürich, Basel und Bern einen Freundschaftsvertrag geschlossen. Aber wir sind zugleich ja auch eine Freie Reichsstadt im Deutschen Reich und direkt dem Kaiser als unserem Schutzherrn unterstellt. Er sorgt zum Beispiel dafür, dass die Warentransporte unserer Kaufleute von Stadt zu Stadt möglichst sicher sind. Außerdem will er die Einheit des christlichen Glaubens im ganzen Reich wiederherstellen. Er drängt darauf, dass alle Christen im Reich wieder eine große Kirchengemeinschaft werden. Um das mit ihm und den Fürsten zu verhandeln, brauchen wir aber erst einmal die Glaubenseinheit unter uns Evangelischen. Aber die fehlt uns noch. Da sind auf der einen Seite die Anhänger Luthers, auf der anderen Seite die von Ulrich Zwingli. Und dazwischen stehen wir, die Freien Reichsstädte, die sich mehr oder weniger beiden verbunden fühlen. Landgraf Philipp von Hessen will jetzt unbedingt eine Einigung zwischen Luther und Zwingli erreichen und bittet dazu um Eure Teilnahme an den Gesprächen, die ich natürlich gerne erlaube. Ihr habt unter allen Reformatoren die größte Fähigkeit, verschiedene Überzeugungen so zusammenzuführen, dass sich alle Beteiligten trotz ihrer Verschiedenheit gut verstanden und aufgehoben wissen“.

Bald danach ist Martin Bucer mit Ulrich Zwingli und dessen Begleitern, die von Zürich aus in Straßburg Station gemacht haben, auf dem Weg nach Marburg zu Gesprächen mit Martin Luther und dessen Begleitern. Dort werden sie von Landgraf Philipp erwartet. Als Martin nach etlichen Tagen wieder zurückkehrt, ist ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Er trifft sich mit seinen Straßburger Freunden im Münsterpfarrhaus und beklagt das Misslingen der Gespräche. „Im nächsten Jahr ist Reichstag in Augsburg“, ruft er aus, „da sollen die Religionsparteien ihr Bekenntnis vorlegen. Wir haben dann eines der Lutheraner, eines der Katholiken und womöglich noch eines unserer Freien Reichsstädte, wenn das überhaupt zustande kommt. Wir machen uns damit beim Kaiser und den Fürsten, die zu ihm halten, bloß lächerlich“.

So war es dann auch. Philipp Melanchthon als Vertreter der lutherischen Seite legte sein Augsburger Bekenntnis vor, die Schweizer ihr Helvetisches Bekenntnis. Martin Bucer und Wolfgang Capito wurden eilig nach Augsburg gerufen. Dort war Bucers Fähigkeit gefragt, wenigstes die vielen eigenständigen süddeutschen Reichsstädte zu einem gemeinsamen Bekenntnis zu vereinen. Als er nach anstrengenden Tagen in Augsburg wieder zurück in Straßburg ist, berichtet er erschöpft: „Für unsere Stadt habe ich mir das gut vorstellen können, dass Christen die Bibel auf ihre je eigene Weise verstehen und wir Theologen dann mit unseren Worten zeigen, wie sich diese Vielfalt unter dem Dach des neuen reformatorischen Glaubens zu einer Einheit zusammenfügt. Aber mit den vielen Städten, ihren Bürgermeistern, Räten und Predigern zu gemeinsamen Glaubenssätzen zu kommen, in denen sich alle aufgehoben wissen, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Es waren Verhandlungen über Verhandlungen – und kein Ergebnis“.

Wolfgang Capito erzählt weiter: „Alles hängt am unterschiedlichen Verständnis des Abendmahls. ‚Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut hat Jesus gesagt, als er Brot und Wein seinen Jüngern gereicht hat. Wie ist das heute zu verstehen? Dass sich unter den heiligen Worten des Priesters nicht Brot und Wein in Leib und Blut Jesu Christi verwandeln, wie die Katholiken sagen, darin sind wir Evangelischen uns ja alle einig. Aber wie Jesus Christus dann beim Abendmahl unter uns ist, dazu gehen die Überzeugungen auseinander. Verbindet sich mit dem Empfang von Brot und Wein das Erlebnis einer wirklichen unsichtbaren Gegenwart Jesu Christi? Nur so, meint Luther, kann diese Gegenwart in Brot und Wein wirklich Gottes Geschenk für uns ein. Oder sind Brot und Wein vielmehr als ein Gleichnis dafür zu verstehen, dass Jesus Christus unsichtbar unter uns ist? Nur das ist einleuchtend, meint Ulrich Zwingli. Ist im Brot und Wein Jesus Christus nur für diejenigen da, die an ihn glauben? Hängt dann alles an unserem Glauben, den wir zum Abendmahl mitbringen, oder wird uns mit dem Abendmahl der Glaube immer wieder neu geschenkt? Fragen über Fragen. Es könnte einem schwindlig dabei werden“.

Martin Bucer redet weiter: „Ich habe ja vorgeschlagen, diese Fragen einfach mal beiseite zu legen und das Abendmahl als geheimnisvolles Geschenk Gottes an uns zu erleben, das wir mit unseren Fragen und Antworten nicht ergründen können. Dann hätten wir Reichsstädte mit diesem Satz auch Melanchthons Bekenntnis mit unterschreiben können. Aber dafür gab es keine eindeutige Zustimmung. Schließlich gab es als Ergebnis all der mühsamen Verhandlungen nur ein gemeinsames Bekenntnis der Freien Reichsstädte Straßburg, Konstanz, Ulm und Lindau. Peinlich, peinlich, kann ich nur sagen! Ich bin sogar von Augsburg aus zu Martin Luther nach Coburg geritten, der ja zu seiner Sicherheit nicht nach Augsburg reisen konnte. Ich habe zwei Tage lang mit ihm all diese Fragen besprochen. Zuerst hat er meine Meinung bloß abgewehrt. Aber dann sind wir uns doch näher gekommen. Ich habe ihm einen Ergebnissatz vorgeschlagen, der ihm sogar gefallen hat“. Neugierig warten die anderen auf Martins weiteren Bericht. „Jesus Christus schenkt sich im Abendmahl mit Brot und Wein wirklich den Glaubenden, aber nicht hineingepackt in diese Elemente“. Die anderen denken laut Wort für Wort über diesen Satz nach, und dann spricht Martin weiter: „Martin Luther hat mich sogar ermutigt, weiter an gemeinsamen Bekenntnissätzen zu arbeiten, in denen sich alle wiederfinden können, und für sie zu werben“.

Martin macht eine Pause und seufzt dann: „Ihr wisst ja, was das für mich bedeutet: Viele, viele Stunden auf dem Pferd zu unseren Nachbarstädten Ulm, Memmingen, Isny, Lindau, Konstanz, auch nach Zürich und Basel. Ich weiß noch gar nicht, wie das zu schaffen ist. Und dann die vielen Gespräche und anstrengenden Verhandlungen. Ihr werdet auch in den nächsten Monaten hier in Straßburg oft auf mich verzichten müssen!“

Einige Zeit wartet Martin Bucer noch mit diesen Reisen. Im Herbst des Jahres 1534 ist dann die Zeit günstig für einen neuen Verständigungsversuch. Die Freunde stimmen dem auch zu und richten zugleich ihre Erwartungen an Martin: „Wenn es einer schafft, dann bist du es“, sagen sie. Und so macht sich Doktor Martin Bucer wieder auf den Weg, obwohl es schon Oktober geworden ist. Das Reisen ist jetzt wegen des ungünstigen Wetters noch beschwerlicher als sonst. Auf seinem Pferd überholt er viele Fußgänger. Die einen sind Mönche auf ihrem Weg zum nächsten Kloster. Schüler und Studenten sind unterwegs zu einer neuen Schule oder gar Universität, Handwerksburschen auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Sie alle sind auf der Suche nach einer billigen Herberge für die kommende Nacht. Wenn Martin an die überfüllten Nachtlager denkt, dann graut ihm schon vor den Nächten. Aus Sorge um seine Habseligkeiten und wegen der fehlenden Ruhe wird er wieder kaum ein Auge zu tun können. Jetzt sind eben noch all die Menschen unterwegs, die vor dem Wintereinbruch mit Kälte, Frost und Schnee noch notwendige Reisen hinter sich zu bringen versuchen – so wie er selbst auch.

Warum nur nimmt Martin diese Mühen auf sich? Es ist vielleicht die letzte Gelegenheit, in der Vielstimmigkeit der evangelisch Gewordenen in den Fürstentümern und Reichsstädten die gemeinsamen Glaubenssätze zu finden, auf die sich alle einigen können und die dann eine gute Grundlage sind für die weiteren Verhandlungen mit dem Kaiser. Woche um Woche ist er schon unterwegs. Auf anstrengende und entbehrungsreiche Reisetage folgen konzentrierte und oft genug mühsame und ermüdende theologische Gespräche mit den Räten und Predigern der Reichsstädte. Aber obwohl es inzwischen schon Dezember geworden ist, hört Martin nicht auf damit. Auf einer Versammlung in Konstanz hat er dann endlich die evangelischen Reichsstädte für sein Ziel gewonnen.

Gleich geht es weiter, nach Kassel zum hessischen Landgrafen Philipp, der sich auch für die Einigkeit im evangelischen Lager einsetzt. Noch in den letzten Tagen des Jahres zwischen Weihnachten und Neujahr trifft er sich dort mit Philipp Melanchthon. Der vertritt die lutherische Sichtweise, mit der es noch vor wenigen Jahren in Augsburg zu keiner Einigung gekommen ist. Zum Glück kommt es zu sehr guten, verständnisvollen Gesprächen. Bucer und Melanchthon kommen sich freundschaftlich näher. Sie entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Das tut gut.

In den winterlichen ersten Tagen im neuen Jahr reitet Martin Bucer erleichtert zurück nach Straßburg und gleich weiter nach Zürich. Doch dort warten Enttäuschungen auf ihn. Einigkeit mit den Schweizer Reformatoren kommen nicht zustande. Der Traum von einer Einheit aller Evangelischen ist zerplatzt. Jetzt kann es nur noch darum gehen, auch die Wittenberger Reformatoren für den bisher eingeschlagenen Weg der Einigung zu gewinnen. Die Gespräche mit Philipp Melanchthon waren ja schon so erfolgreich. Aber Melanchthon ist noch nicht Luther. Erst wenn der für das gemeinsame Ziel gewonnen ist, dann ist die Einigung aller Evangelischen zumindest im Deutschen Reich auf einem guten Weg.
Im April spürt Martin Bucer heftigen Gegenwind aus Wittenberg. Luthers Freund Nikolaus von Amsdorf greift Martin in einer Schrift heftig an. Martin ist verärgert und verbittert, will im Zorn alles hinwerfen. Aber Melanchthon redet ihm gut zu. Er als engster Mitarbeiter Luthers kennt die Verhältnisse dort am besten und macht ihm Mut. Noch ist nichts verloren. Was gut werden will, braucht eben seine Zeit.

Es ist wieder Herbst geworden, als nun Luther selbst den Predigern der Freien Reichsstädte ein ausführliches Gespräch mit ihm vorschlägt. Das hört sich gut an. Bucer kann damit an das Erreichte vom vergangenen Herbst anknüpfen.

Gleich nach dem Osterfest 1536 ist es so weit. Aus verschiedenen Richtungen nähern sich die Grüppchen der evangelischen Prediger der Stadt Eisenach, wo die Gespräche stattfinden sollen. Aber Luther ist krank. Er kann nicht reisen. Also ziehen alle weiter nach Wittenberg. Sie kommen an einem Sonntag im Mai dort an und versuchen, in ihren Herbergen zur Ruhe zu kommen. Am Tag darauf beginnen die Gespräche mit Martin Luther. Die Stimmung ist angespannt. Gegenseitiges Misstrauen und viel Unsicherheit sind zu spüren. Dann bringen Freunde Bucers geschickt dessen Einigungsvorschläge als Ergebnisse seiner früheren mühsamen Reisen ins Spiel. Die Stimmung wird lockerer, der Gesprächston zunehmend freundlicher. Nacheinander werden nun alle wichtigen Themen des evangelischen Glaubens besprochen. Alles geht gut voran. Martin Bucer fällt ein riesengroßer Stein vom Herzen. Die Gesprächsergebnisse werden schriftlich festgehalten und von allen Teilnehmern unterschrieben.

Das Ziel ist fast erreicht. Jetzt müssen nur noch die gesamten Räte der Freien Reichsstädte dem Ergebnis zustimmen. Wieder ist Martin Bucer auf Reisen. Denn er kann in den Ratsversammlungen der Freien Reichsstädte am besten erklären, was in Wittenberg gemeinsam beschlossen wurde und um Zustimmung dafür werben. Das gelingt ihm auch, und endlich ist es dann geschafft. „Wittenberger Konkordie“ heißt die Schrift. Als er sie endlich gedruckt in Händen hält, weiß er, dass die Einigung gelungen ist. In den Sätzen dieser Schrift ist sie nun für alle deutlich sichtbar. Jetzt kann sich Martin Bucer wieder den Aufgaben in seiner Heimatstadt Straßburg mit ganzer Kraft zuwenden.

 

Gesprächsanregungen

  • Warum nur nimmt Martin Bucer die mühseligen, anstrengenden Reisen und Verhandlungen auf sich? In Straßburg hätte er als Pfarrer seiner Gemeinde und im Kreis seiner Reformatorenfreunde sicher auch genug zu tun gehabt.
  • Mit unguten Gefühlen denkt Martin an den Reichstag in Augsburg zurück, als die Evangelischen dem Kaiser und seinen Gefolgsleuten gegenüber viel Uneinigkeit zeigten. Jetzt könnte bei neuen Verhandlungen ein anderer Eindruck entstehen. Welche Hoffnungen könnte sich Martin jetzt wohl gemacht haben?
  • Warum wohl war der Weg zur Einigung so schwer gewesen? Es wäre doch viel einfacher gewesen, Bucer hätte einen Vorschlag gemacht, der an alle verschickt worden wäre, den alle gelesen und ihm dann zugestimmt hätten? Welche Erlebnisse habt ihr mit Vorschlägen, zu denen die Zustimmung aller Beteiligten erwünscht ist?

Literaturhinweis

Martin Greschat: Martin Bucer - Ein Reformator und seine Zeit (1491-1551). Aschendorff-Verlag, Münster 2009.

 

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