Erzählvorschlag
"Endlich ist es geschafft", sagt Kain zu seinem Bruder Abel, als sie wieder einmal zusam-mensit¬zen. Das kommt selten vor, denn die beiden haben ganz verschiedene Berufe. Abel ist Schäfer und viel unterwegs mit seinen Herden, und Kain ist Bauer. "Ich habe es nicht bereut, dass ich Bauer geworden bin", fährt Kain fort. "Das Korn ist einigermaßen geraten nach all der Mühe und Arbeit, wir haben gute Vorräte für den Winter". - "Ich kann mich auch nicht beklagen", antwortet Abel. Ich bin eben bei dem geblieben, was un¬sere Eltern ge-macht haben. Ich bin mit meiner Schafherde über das Land gezogen und mir ist es dabei gut gegangen. Und ich bin immer noch der Meinung, dass das der richtige Beruf ist." Diese Wor-te ärgern Kain: Warum kann Abel nicht zugeben, dass auch er einen richtigen Weg gegangen ist?
Kain hängt seinen Erinnerungen nach: Er wandert in seinen Gedanken zurück in die Zeit, in der er sich entschlossen hatte, die Schafzucht aufzugeben und Landwirt zu werden. Ob das bloß gut geht! hatten die anderen, vor allem Abel, immer wieder zu ihm gesagt. Wir sind seit eh und je Schäfer gewesen, etwas anderes passt nicht zu uns. Aber Kain wollte es wissen. „Ich will etwas Neues probieren, und es wird mir gelingen! Gott wird auf meiner Seite sein. Ihr werdet es sehen“, hatte er geantwortet.
Über das Jahr hinweg ist das Korn ganz gut gewachsen. Kain freut sich darüber. Er ist stolz auf seine Ernte. Jetzt kann er ganz zufrieden neben Abel sitzen, obwohl er zugeben muss, dass sich auch Abels Herden in diesem Jahr prächtig vermehrt haben. "Ich werde Gott ein Opfer bringen" sagt Kain zu Abel. "Ich möchte mich bei ihm für die Ernte bedanken. Ich möchte ihm von ganzem Herzen danken, dass er trotz aller meiner Mühe auf meiner Seite war!" - "Ich werde auch ein Opfer bringen", antwortet Abel, "ich habe guten Grund, Gott zu danken, weil es mir in diesem Jahr sehr gut ging und ich jetzt noch besser weiß, dass mein Beruf der richtige ist". Kain passt das nicht, was Abel sagt, aber er kann ihm nicht wider-sprechen. Man wird schon sehen, dass Gott mein Opfer dankbar annimmt, denkt er. So zie-hen sie hinaus auf das Feld.
Drüben, unter ein paar Bäumen baut Abel seinen Opferaltar auf, gleichzeitig baut Kain am Rande seines besten Ackers seinen Altar. Dabei schielt er immer wieder hinüber zu Abel. Über mein Opfer wird sich Gott sicher freuen, sagt er zu sich, denn ich bringe ihm von allen Früchten, die ich geerntet habe. Und er schmückt mit ihnen einen prächtigen Erntedank-Altar. Abel ist schon fertig, sein Opferfeuer brennt. Kain hört, wie Abel sein Dankgebet spricht, singt und sich freut. Er hat das Gefühl, dass Abels Opfer bei Gott gut ankommt. Das gönnt er ihm nicht. Er sieht richtig vor sich, wie Gott das Opfer von Abel freundlich annimmt. Neid steigt in ihm auf: Der hat sich nicht so plagen müssen wie ich, denkt er. Und seine Freude ist plötzlich wie weggeblasen. Es ist ihm, wie wenn Gott nur zu Abel hinsieht und nicht zu ihm. Als sein Opferfeuer nicht so richtig brennen will, ärgert sich Kain noch mehr. Soll das vielleicht heißen, dass Gott Abels Opfer dankbarer annimmt als sein eigenes? Das darf doch nicht sein! Kain wird wütend.
Je mehr sein Missmut steigt, desto zorniger wird er auf Abel. Er schaut immer wieder hin-über zu ihm und sieht, wie fröhlich der vor seinem Opferaltar steht. Und dann schaut Abel zu ihm herüber und ruft: „Na, mit deinem Opfer wird es wohl nicht so recht. Das hast du dir anders vorgestellt, oder?“ Kain muss zugeben, dass das stimmt, aber das stachelt seine Wut an. Und sie wird noch größer, als Abel ruft: „Wenn es mit deinem Opfer nichts mehr wird, kannst du ja herüberkommen und bei mir mitfeiern!“ Jedes dieser Worte ist wie ein Stich, der Kain trifft.
Er geht hinüber zu Abel, aber nicht, um mit ihm zu feiern, sondern um mit ihm zu streiten. „Dein blödes Opferfeuer ist mir doch total egal“ ruft er. Und Abel gibt zurück: „Das glaube ich nicht, denn dann würdest du dich nicht so sehr ärgern! Gib doch endlich zu, dass ich den besseren Beruf habe und dass Gott deshalb mein Opferfeuer gerne annimmt, im Gegensatz zu deinem!“ Kain muss wieder zugeben, dass Abel wahrscheinlich Recht hat, aber genau das macht ihn jetzt rasend vor Wut. Er schubst Abel weg, der schubst zurück, dann fangen die beiden an sich zu schlagen, immer mehr. Und dazwischen ruft Abel mehrmals: „Gib doch zu, dass ich der Bessere bin!“ Kain ist jetzt wie blind vor Wut. „Dir werde ich noch das Maul stopfen“ schreit er, schlägt ihm ins Gesicht, einmal – und noch einmal mit einem Stein in der Hand. Da fällt Abel um. Er ist tot.
Mit einem Schlag ist Kains Zorn verflogen, zitternd vor Schreck steht er da und ruft zu Gott: "Warum, Gott, hast du mich so wütend werden lassen? Ich wollte ihn doch nicht umbringen! Bin ich jetzt schuld, dass er tot ist?“ Und dann hört Kain doch Gottes Stimme in sich: "Was geschehen ist, ist deine Schuld. Da ist nichts daran zu ändern. Und diese Schuld wird dir dein Leben schwer machen. Was du getan hast, ist wie ein dunkler Schatten, der dich verfolgen wird! Du wirst fliehen müssen" - "Ja", sagt Kain, "und ich muss Angst ha¬ben vor den anderen Menschen, dass sie sich an mir rächen und mich auch töten! Nirgendwo kann ich sicher sein, immer muss ich auf der Flucht sein!"
"Nein", hört er auf einmal Gott ganz laut in sich, "du musst keine Angst haben, denn du stehst un¬ter meinem Schutz! Ich bin bei dir! Was geschehen ist, das ist schlimm, und du wirst dein Leben lang daran denken müssen. Aber schau nach vorne! Ich halte trotzdem zu dir! Du hast eine Narbe an deiner Stirn, einen roten Fleck. Der soll das Zeichen dafür sein, dass du unter meiner Obhut stehst". Jetzt wird es Kain wieder leichter. Er weiß noch nicht, wie es mit ihm weitergehen soll, aber jetzt hat er etwas, das ihm Mut macht, an dem er sich festhalten kann. Es ist ihm so schwer vor Verzweiflung und Trauer, aber es ist ihm doch zugleich auch, wie wenn Gott selbst ihm wieder auf die Füße hilft. Er weiß, dass er einen schweren Weg vor sich hat. Aber er weiß auch, dass er mit Gott einen guten Begleiter hat, der es gut mit ihm meint. Und er weiß auch: dass die Wut so riesengroß wird, das darf nie, nie mehr passieren!
Gesprächsanregungen:
- Das ist eine schlimme Geschichte, die niemand von uns erleben möchte! Was meint ihr dazu?
- Im Laufe der Geschichte ist Kain immer mehr in Wut geraten. Könnt ihr verstehen, was ihn so wütend gemacht hat?
- An einer Stelle hätte jemand ganz laut Stopp rufen müssen! Wo wäre eurer Meinung nach diese Stelle gewesen?
- Wenn niemand anderes da ist, muss man sich selbst den Stopp-Befehl geben. Könnt ihr euch vorstellen, wie das geht?
- Hätte sich auch Abel anders verhalten sollen? Was hätte er besser machen können?
- Mit dem Stopp-Befehl wäre die Geschichte anders weitergegangen. Erzähle, wie du dir das Ende der Geschichte dann vorstellst!
- Kain muss eine Strafe auf sich nehmen, aber Gott beschützt ihn. Ist das gerecht?
- Kain nimmt eine ganz wichtige Erfahrung mit auf seinen Weg. Kannst du sagen, welche?