November 2020-Macht hoch die Tür
Macht hoch die Tür – Georg Weissel und sein Adventslied
Vorüberlegungen
Die in der Erzählung berichteten Ereignisse sind historisch belegt. Nur die Gespräche sind erdacht.
Georg Weissel wurde 1590 in Domnowo, etwa 40 km von Königsberg entfernt geboren. Mit 11 Jahren begann seine Ausbildung in Königsberg, zuerst an einer städtischen Lateinschule, dann an der Lehranstalt der Universität. Nach seinem Theologiestudium wirkte er drei Jahre lang als Rektor einer Schule, studierte dann weiter und kam erst mit 33 Jahren zu seiner Pfarrstelle in Königsberg, die er bis zu seinem frühen Tod 1635 innehatte. Neben den Unruhen des Dreißigjährigen Kriegs trafen ihn und seine Frau Agnes der Tod des einzigen Kindes schwer.
Georg Weissel pflegte enge Kontakte zur berühmten „Königsberger Dichterschule“ unter der Leitung des etliche Jahre jüngeren Simon Dach. Mit zwanzig eigenen Liedern leistete er seinen Beitrag. Bekannt ist auch sein Bekenntnislied „Such, wer da will ein ander Ziel, die Seligkeit zu finden..“ (Ev. Gesangbuch Nr.346). Von dem befreundeten Königsberger Domorganisten Heinrich Albert stammen Text und Melodie des bekannten Morgenlieds „Gott des Himmels und der Erden“ (Ev. Gesangbuch 445).
Erzählung
Es ist ein trüber, ungemütlicher November-Vormittag im Jahr 1623, an dem es Georg Weissel trotzdem aus dem Haus treibt. Im Laufen versucht er seine Unruhe loszuwerden. So geht er zuerst in der Altstadt von Königsberg hin und her. Diese Residenzstadt in Ostpreußen ist seine Heimat. Hier ist er groß geworden. Heute Nachmittag hat er ein Gespräch mit dem Dompfarrer Mylius. Er spürt, dass es für ihn und seine Zukunft von großer Bedeutung sein könnte. Seine Anspannung treibt ihn dann auch aus der Stadt hinaus auf die Rossgärter Wiesen. Dort hatten schon vor langer Zeit die Ritter des Deutschen Ordens mit ihren Pferden geübt, es war ihr Pferdegarten. Seit einiger Zeit hat sich dort freilich viel verändert.
Georg begegnet einem alten Freund aus der Schulzeit, von dem er schon lange nichts mehr gehört hatte. Es ist ihm ganz recht, mit ihm zu gehen und zu plaudern. Das lenkt ihn von den Gedanken an den Nachmittag ab. „Weißt du noch, wie damals…“ so fangen die Sätze an, mit denen alte Erinnerungen wach werden. „Weißt du noch“, beginnt der Freund, „wie stolz wir waren, als wir schon als Kinder in die kurfürstliche Lehranstalt aufgenommen wurden? Unsere Eltern hätten ja niemals das Geld für eine der Stadtschulen aufbringen können“. „Freilich“, antwortet Georg, „wir waren auch fleißig, um die Professoren nicht zu enttäuschen, die uns ausgewählt hatten“. Der Freund fährt fort: „Du hast ja damals schon eine große Neigung zum Dichten und Musizieren gehabt, warst sogar Sänger in der kurfürstlichen Hofkapelle. Was ist eigentlich daraus geworden?“ „Ach“, sagt Georg, „für meinen Berufsweg hat das eigentlich keine Rolle gespielt. Bei meinem Studium der Theologie ging es vielmehr um die Glaubenslehren samt den Streitereien um ihr richtiges Verständnis“. Georg zögert. „Es fällt ihm sichtlich schwer, dem alten Schulfreund einzugestehen, dass er mit nun fast dreißig Jahren noch immer keine Anstellung als Pfarrer gefunden hat, und dass er sehnlichst darauf wartet, dass sich endlich für seinen Beruf als Pfarrer eine Tür auftut. Mit knappen Worten sagt er nur: „Viel wichtiger ist jetzt, dass ich bald eine Pfarrstelle finde, die zu mir passt“.
Inzwischen sind die beiden an der Baustelle für die fast fertig errichtete neue Rossgärter Kirche angekommen. Der Freund nimmt erneut den Gesprächsfaden auf: „Hättest du dir damals vor zwanzig Jahren gedacht, dass hier auf den Rossgärter Wiesen ein neuer Stadtteil entsteht, der inzwischen groß genug geworden ist für eine eigene Kirche? Außerdem ist es ja erst wenige Jahre her, dass auch in unserem Königsberg die Pest wütete und so viele Menschen starben. Dazu auch noch der Krieg zwischen den Schweden und Polen und wir dazwischen. Und wer weiß, wie lange der große Krieg zwischen den evangelischen und katholischen Fürsten im Deutschen Reich dauern wird. Trotz all dem ist in den letzten Jahren diese blühende Siedlung hier am Stadtrand entstanden“. Georg kann dem nur zustimmen, und der Freund redet weiter: „Wäre es nicht eine passende Aufgabe für dich, hier als Pfarrer die Menschen zu einer neuen Gemeinde zusammenzurufen?“ Der Freund muss weiter. Er verabschiedet sich und lässt einen nachdenklichen Georg zurück. Ob vielleicht hier in dieser Kirche für ihn die Tür aufgehen und er sie mit seiner Botschaft von Jesus Christus für die Menschen hier aufmachen könnte?
Als die Wolken dunkler werden, kehrt Georg in die Altstadt zurück. Jetzt ist es bald Zeit für den Besuch im Pfarrhaus des Dompfarrers Mylius. Eigentlich heißt er ja Müller, aber wie so viele andere Gelehrte hat auch er seinem Namen einen lateinischen Klang gegeben. „Mylius“ sagt Georg vor sich hin und lächelt. Denn dieser kluge Mann ist kein Mensch, der auf einem hohen Ross sitzt und auf die anderen herabsieht, sondern sehr freundlich um umgänglich. Sein Pfarrhaus mit seiner großen Familie ist ein Haus mit offenen Türen für alle, die Begegnung und Rat suchen. Mit diesem Pfarrer konnte Georg schon über seine Sorgen reden. Mylius hat auch angedeutet, dass er sich beim Kurfürst dafür einsetzen wird, damit Georg Weissel die neue Pfarrstelle der neuen Rossgärter Kirche bekommt. Ob es bei dem Gespräch wohl darum gehen wird? Georg spürt, wie ihm bei diesem Gedanken das Herz klopft.
Über etwas anderes möchte er mit ihm heute allerdings noch nicht reden. Was ihn nämlich so oft wie einen Magnet in dieses Haus zieht, ist Agnes, eine Tochter der Familie. Die beiden verstehen einander sehr gut. Aber erst, wenn Georg eine sichere Pfarrstelle innehat, könnten Heiratspläne geschmiedet werden. Dafür wünscht sich er so sehr, dass bald auch da eine Tür aufgehen kann.
Inzwischen hat es kräftig zu schneien begonnen, und dazu fegt gerade eine Sturmbö über die Stadt hinweg. Georg ist schon beim Dom angekommen, da öffnet der Küster gerade die Portaltüre und ruft: „Kommt herein, wartet hier den Schneeschauer ab, gönnt euch einen Augenblick der Ruhe in eurer Eile und Hast. Das Gotteshaus hat eine offene Tür für alle“. Das kommt Georg gerade recht. Er tritt ein und spürt, wie ihm die Ruhe in dieser Kirche guttut. Und er betet: „Guter Gott, hilf, dass mir auch im Pfarrhaus eine große Tür aufgeht“. Und so geschieht es auch. Mylius hat eine gute Nachricht für ihn: Der Kurfürst stimmt zu, dass Georg die Pfarrstelle bekommen kann. Wegen Verzögerungen kann zwar erst am 2. Advent die Kirche eingeweiht werden, aber gleich drei Tage danach ist Georg zur Probepredigt eingeladen. Und wenn die gelingt, wovon der Dompfarrer überzeugt ist, kann noch am dritten Advent die feierliche Einführung ins Amt geschehen. Damit wäre Georg schon für die Weihnachtszeit voll einsatzfähig. „Der Kurfürst wünscht“ auch, berichtet der Dompfarrer weiter, „dass sich Pfarrer Weissel bald um eine tüchtige Pfarrfrau bemühen sollte“. Er lächelt und bittet dann Agnes mit zum Gespräch. Als sie eintritt, geht für Georg wieder eine riesengroße Tür auf.
Georg ist überglücklich, und Agnes mit ihm. Die beiden haben in den folgenden Tagen viel zu bereden. Zugleich macht sich Georg mit Feuereifer an die Vorbereitung seiner Probepredigt. Worüber er sprechen wird. das ist ihm schon in die Hände gelegt: Adventszeit – die Zeit der sich öffnenden Tür zum Einzug von Jesus Christus in unsere Welt und in unser Herz.
Als Georg wieder in seinem Studierstübchen sitzt, nimmt er sich den Psalm 24 aus dem Alten Testament vor, der seit je her der Adventszeit zugeordnet ist. Er erinnert sich an das, was er dazu in seinem Studium gelernt hat: Als der Tempel in Jerusalem erbaut und eingeweiht wurde, da gehörte auch der feierliche Einzug der Bundeslade dazu. Das war der Kasten mit den wertvollen Erinnerungen an den Zug der Israeliten durch die Wüste unter Gottes Geleit. Dieses Gehäuse war das Zeichen für all das, was Gott für sein Volk in dieser Zeit Gutes getan hat.
Er sieht diesen Einzug anschaulich vor sich: Das Tempeltor ist noch verschlossen. Die Priester mit der Lade klopfen daran und fordern zum Öffnen auf: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ (Vers 7)
Als Antwort von innen kommt die Frage: „Wer ist der König der Ehre?“ (Vers 8).
Darauf folgt von außen die Erklärung: „Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr, mächtig im Streit.“
Und mit diesen Worten gleich die wiederholte Aufforderung:
„„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ (Vers 9).
Wieder von innen die Frage: „Wer ist der König der Ehre?“ (Vers 10).
Eine erneute Erklärung von außen: „Es ist der Herr Zebaoth; er ist der König der Ehre“.
Nun endlich wird das große Tor des Tempels zum feierlichen Einzug in den Tempel geöffnet. Während Georg dies liest und vor sich sieht, da nehmen diese Bibelworte in ihm schon die Form eines Gedichts an:
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit,
ein König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich,
der Heil und Leben mit sich bringt: derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott, mein Schöpfer reich von Rat.
Es klopft an der Tür und Agnes tritt ein. Von ihr lässt sich Georg gerne unterbrechen und sie gleich teilhaben an seinen Gedanken für die Predigt. Aufmerksam hört sie auch das Liedgedicht zu dem Psalm und meint dazu: „Mir gefällt gut, wie du schon den Bogen spannst vom Psalm des Alten Testaments zu unserer Adventszeit mit der Vorbereitung auf die Geburt Jesu. Der König aller Königreich ist für uns Christen ja immer auch der Heiland der Welt, der Heilsbringer für alle“. Und nach einer kurzen Pause fährt sie fort: „Willst du es mit dieser kurzen Andeutung belassen?“ Georg antwortet lachend: „Liebe künftige Pfarrfrau, natürlich nicht! Jetzt kommt ja erst das für uns Christen Wichtige. An die Stelle der Bundeslade, die in den Tempel von Jerusalem einzieht, tritt Jesus, der nach Jerusalem kommt. Und der Kasten mit den Erinnerungen an den Zug Israels durch die Wüste sind für uns die Erinnerungen an Jesu Worte und Taten, auch an sein Leiden und Sterben und an seine Auferweckung zu neuem Leben“. Und schon wiederholt Georg das mit einer weiteren Liedstrophe:
Er ist gerecht; ein Helfer wert; Sanftmütigkeit ist sein Gefährt,
sein Königtum ist Heiligkeit, sein Zepter ist Barmherzigkeit;
all unsre Not zum End er bringt, derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott, mein Heiland groß von Tat.
Agnes ist sehr beeindruckt von Georgs Dichtkunst. Georg freut sich darüber und sagt: „Es ist für mich wunderbar, wie zusammen mit dir solch ein Lied entsteht. Das kann auch später eine feine Sache werden!“ Seine Verlobte hat in ihrer Begeisterung und in ihrem Eifer schon rote Backen bekommen und drängt weiter: „Advent heißt doch auch, dass die Erinnerungen an Jesus aufs Neue Einzug halten sollen in unserer Stadt, in unserem Land, in der ganzen Welt.“ Sie lehnt sich erwartungsvoll zurück und fordert Georg auf: „So, und jetzt bin ich gespannt, wie das bei dir auch wieder zu einem Liedvers wird“. Der zögert nicht lange und antwortet dann so:
O wohl dem Land, o wohl der Stadt, so diesen König bei sich hat.
Wohl allen Herzen insgemein, da dieser König ziehet ein.
Er ist die rechte Freudensonn, bringt mit sich lauter Freud und Wonn.
Gelobet sei mein Gott, mein Tröster früh und spat.
Georg spricht gleich weiter: „Damit ist meine Adventsbotschaft aber noch nicht zu Ende. Dass die Türen in uns selbst aufgehen mögen, und wie das geschehen kann, das ist unbedingt noch eine eigene Liedstrophe wert. Das Licht, das mit Jesus in die Welt gekommen ist, soll in uns aufleuchten. Dieser König will in unsere Herzen einziehen, will uns so durch das neue Jahr hindurch begleiten. Wir selbst sollen der Tempel sein für seine Botschaft“. Agnes antwortet: „Ich spüre genau, was du jetzt denkst. Du sprichst von dir selbst, von den Türen, die dir und uns aufgegangen sind. Ich denke an die Pfarrstelle, auf die du so lange warten musstest; mit der neuen Gemeinde, die auf dich wartet; mit uns beiden und der Zukunft, die wir gemeinsam erwarten“. Georg nickt: „Mein Liedgedicht, unser Lied ist wie ein Weg der Adventsbotschaft vom Tempel in Jerusalem zu Jesus als dem neuen König, weiter zu unserer Stadt und allem Land und schließlich zu uns selbst. So wie das Lied jetzt in unserem Gespräch entstanden ist, so soll es auch in meiner ersten Adventspredigt in wenigen Tagen aufs Neue entstehen.
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, eu’r Herz zum Tempel zubereit‘.
Die Zweiglein der Gottseligkeit steckt auf mit Andacht, Lust und Freud;
so kommt der König auch zu euch, ja Heil und Leben mit zugleich.
Gelobet sei mein Gott, voll Tat, voll Tat, voll Gnad.
Dann ist der Tag für die adventliche Probepredigt ist gekommen. Aufmerksam lauschen die Gottesdienstbesucher dem Mann, der höchstwahrscheinlich ihr neuer Pfarrer werden wird. Agnes blickt ab und zu verstohlen um sich, ob sie in den Mienen der anderen etwas erkennen kann. Sie spürt, wie die Bekräftigung der Sätze durch jeweils eine Strophe des Liedgedichts, den Leuten gut tut. Sie meint zu erkennen, wie Etliche diese Strophen mit einem zustimmenden Kopfnicken beantworten. Obwohl sie das ganze Lied schon zu kennen glaubt, erlebt sie es in diesem Gottesdienst auf ganz neue Weise, und zum Schluss sogar noch mit einer Überraschung: In einem letzten Liedvers, den sie noch nicht kennt, spricht Georg ein Gebet für sich selbst und zugleich für alle.
Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist.
Ach zieh mit deiner Gnade ein, dein Freundlichkeit auch uns erschein.
Dein Heilger Geist uns führ und leit den Weg zur ewgen Seligkeit.
Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Preis und Ehr.
Ob Georg diese Predigtprüfung bestanden hat, daran besteht kein Zweifel. „Herr Pfarrer, dürfen wir öfter solch eine eindrückliche Liedpredigt von ihnen erwarten“, wird er gefragt. Und er erwidert lachend: „Nicht immer, aber wohl immer wieder einmal. „Aber eines könnte schon bald geschehen“, sagt einer der Vorsteher der Gemeinde, „nämlich dass wir im nächsten Advent dieses wertvolle Gedicht wirklich als Lied mit einer schönen Melodie miteinander singen können“.