Paulus in Ephesus

Vorbemerkungen

In Ephesus, einer der größten Städte im Römischen Weltreich und Hafenstadt am Mittelmeer, in der heutigen Türkei gelegen, war ein gewaltiger Tempel zu Ehren der Stadtgöttin Artemis errichtet worden. Er gilt als eines der antiken Weltwunder. Viele Pilger zog er an und bot Andenkenverkäufern ein gutes Auskommen, vor allem den Silberschmieden, welche die begehrten Tempelchen herstellten. Von ihnen wurde die Verkündigung des Paulus als Gefährdung ihrer Geschäftsgrundlage empfunden. Er wurde angeklagt und nach Flucht und Rückkehr in die Stadt zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. In dieser Zeit entstanden Briefe an die von ihm gegründeten Gemeinden.

Sein persönliches Schreiben an Philemon ist mit einer knappen Seite die kürzeste Schrift in der Bibel. In ihr bittet er seinen Freund, dessen entlaufenen Sklaven Onesimus, der bei Paulus Schutz und Rat gesucht hat, wieder freundlich aufzunehmen. Dieser Brief wurde wohl deshalb in den Kreis der neutestamentlichen Schriften aufgenommen, weil Paulus hier am konkreten Fall den Zusammenhang von persönlicher Freiheit des Glaubens und geschwisterlicher Liebe in der Gemeinschaft der Glaubenden bedenkt. Das weist über den persönlichen Anlass des Schreibens hinaus.

Erzählung

Paulus stört die Geschäfte der Silberschmiede

„Groß ist die Göttin Artemis von Ephesus!“. Immer wieder und immer lauter ertönt dieser Ruf einer wachsenden Menge auf dem Hauptplatz der großen Stadt am Mittelmeer, in der heutigen Türkei. Neugierige bleiben stehen und stimmen mit ein: „Groß ist die Göttin Artemis von Ephesus!“ Dazwischen fragen die neu Hinzugekommenen andere, die schon länger dabei sind: „Gibt es einen besonderen Anlass für diese Verehrung unserer Stadtgöttin?“ Die Antwort kommt schnell: „Es geht gegen einen Paulus, der hier in der Stadt eine neue Religionsgemeinschaft gegründet hat. Wir gehen jetzt gleich alle zu unserem Theater. Dort können wir dann die Redner viel besser verstehen und erfahren mehr über den Anlass für die diese Versammlung“. Schon setzt sich die Menge in Bewegung und laut ertönt es weiter: „Groß ist die Göttin Artemis von Ephesus!“

In dem großen römischen Freilufttheater ist genug Platz für alle. Die Angekommenen setzen sich und es wird ruhig. Alle warten darauf, dass jemand das Wort ergreift. Demetrius, der bekannte Silberschmied, betritt die Bühne und beginnt seine Rede: „Bürger von Ephesus! Ihr wisst alle, wie wichtig für das Leben in unserer Stadt die Große Göttin Artemis ist. Ich meine nicht nur unser Seelenheil, sondern auch unseren Wohlstand. Von überall her kommen Besucher und Pilger zu ihrem berühmten Tempel und verehren mit uns allen unsere Göttin. Sie hat die Stadt zu einem blühenden wohlhabenden Mittelpunkt im ganzen Land werden lassen. Gerne werden die aus Silber gefertigten kleinen Tempelchen gekauft, um damit auch weiterhin mit der Großen Göttin von Ephesus verbunden zu bleiben“. „So ist es“, hört man bestätigende Zwischenrufe.

Dann spricht Demetrius weiter: „Aber dieser Paulus mit seinen Leuten, die sich Christen nennen, glauben an einen unsichtbaren Gott, an einen Christus, der in ihren Herzen wohnt. Sie lehnen jede Götterverehrung im Tempel ab, verkünden es laut und beeinflussen so auch unsere Besucher und Gäste, auf den Kauf unserer Silber-Tempelchen zu verzichten. Wenn das so weitergeht, bedroht das den Wohlstand unserer Stadt“. Und mit erhobener Stimme fügt er noch energisch an: „Wir fordern seine Verhaftung!“ Wieder sind bestätigende Zwischenrufe zu hören, und dann auch solche Sätze: „Er muss mit seinen Leuten verschwinden“. Aus einer anderen Ecke tönt es: „Die Juden glauben ja auch nicht an unsere Große Göttin, sondern an ihren unsichtbaren einen Gott, die sollen gleich mit vertrieben werden“. Da steigt Alexander, ein bekannter Sprecher der jüdischen Gemeinde auf die Bühne und ruft beschwörend: „Verwechselt und bitte nicht mit diesen Leuten um Paulus! Auch In einem Tempel, nämlich dem in Jerusalem, verehren wir unseren Gott. Wir waren nie eine Gefahr für den Wohlstand dieser Stadt. So soll es auch weiterhin bleiben“. „Auch die Christen sind keine Gefahr für uns“, tönt es aus einer anderen Ecke. Mit diesen Worten geben sich die meisten zufrieden. Die Menge zerstreut sich, aber etliche bleiben um Demetrius versammelt und rufen einander zu: „Wir sehen das anders! Lasst uns zum Haus des Paulus gehen und ihm das Predigen austreiben!“ „Halt!“ ruft da der Stadtschreiber dazwischen, der rasch auf die Bühne gesprungen war: „In unserer Stadt gilt das Römische Recht, und das ist gut so. Ich werde dafür sorgen, dass dieser Paulus vor dem Statthalter verklagt wird, und der wird sicherlich ein gutes Urteil zum Wohl unserer Stadt fällen“.

Wenig später betritt Paulus, von Polizisten hereingeführt und von seinem Freund Aquila begleitet, den Gerichtssaal im Regierungspalast. Demetrius, der Silberschmied, ist ebenfalls gekommen. Der Statthalter eröffnet die Verhandlung, indem er das friedliche Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen in der Stadt würdigt: „In unserer Stadt werden orientalische und ägyptische Gottheiten verehrt, in den Heiligtümern der Göttin Demeter und der Großen Mutter Isis. Auch die Judenschaft darf hier ihren Glauben leben. Unsere Große Göttin Artemis ist wie ein schützender Mantel über alle“. Er kommt geradezu ins Schwärmen: „Ihr Tempel ist weltberühmt, ein Wunder der Baukunst. Unzählige Pilger bestaunen dieses Gebäude, erflehen auch den Schutz dieser Göttin und nehmen gerne die Erinnerungstempelchen mit“. 

Da fügt Demetrius gleich seine Beschwerde an. Er warnt vor der Bedrohung des hohen Ansehens dieser Stadt durch die neue Religion der Christen.Aber auch Paulus bekommt Rederecht und betont: „Nie habe ich auf das Wirtschaftsleben dieser Stadt Einfluss genommen. Wir leben unseren Glauben an den einen Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat und unser Herz zu seinem Tempel macht. Wir nehmen das Recht in Anspruch, auch mit unserem Glauben in dieser Stadt leben zu dürfen. Das gilt ebenso für alle Personen, die sich unserem Glauben anschließen“. „Aber wenn diese Religion überhand- nimmt, gefährdet das den Wohlstand unserer Stadt“, wirft Demetrius ärgerlich ein“. Der Statthalter überlegt hin und her und kommt zu folgendem Urteil: „Paulus soll – zumindest bis sich die Unruhe um ihn gelegt hat – aus der Stadt verschwinden. Das muss möglichst unauffällig geschehen, um nicht neu den Zorn so mancher wütenden Bürger zu entfachen“.

Als Paulus mit Aquila in ihrer Wohnung ankommen, wartet Priszilla, Aquilas Ehefrau schon gespannt auf die Nachricht zu der Gerichtsverhandlung und ihrem Ausgang. Aquila erzählt und lässt dabei auch seinem Ärger freien Lauf: „Demetrius führt sich auf, als ob wir wenigen Christen in der riesengroßen Stadt die Pilgerströme zum Versiegen bringen würden. Der hat ja nur Angst davor, dass er etwas weniger verkaufen könnte als bisher“. Priszilla wendet ein: „Ein bisschen kann ich ihn schon verstehen. Das gilt auch für den Statthalter, der vor allem darauf achten muss, dass es in der Stadt keine Unruhen gibt“. Aquila wirft ein: „Da rühmt er zuerst, wie frei hier die Anhänger verschiedener Religionen miteinander leben können, und dann wird Paulus und unsere kleine Gemeinde der Christen auf einmal zur Gefahr für die ganze Stadt. Das passt doch überhaupt nicht zusammen!“
Paulus schaltet sich in das Gespräch ein: „Grundsätzlich sind auch wir Christen verpflichtet, für ein geordnetes Zusammenleben in unseren Städten einzutreten. Aber die Freiheit unseres Glaubens bedeutet, dass wir nicht darauf verzichten, von ihm zu sprechen – auch wenn das für andere unwillkommen und ärgerlich ist. Ich werde also die Stadt und euch verlassen. Aber ich werde sobald wie möglich zurückkehren, um weiterhin mit meinen Worten für unseren Glauben einzutreten, auch wenn mir das eine Gefängnisstrafe einbringen sollte“. In weiteren Gesprächen wenden die drei die Gedanken zur Freiheit im Glauben und der Verpflichtung zum friedlichen Zusammenleben aller Stadtbewohner hin und her. Erst als die Nacht angebrochen ist, begleiten Aquila und Priszilla ihren Freund Paulus auf sicheren Wegen aus der Stadt hinaus.

 

Paulus bekommt Besuch

Paulus hält es nicht lange aus, seine junge Gemeinde in Ephesus im Stich zu lassen. Deshalb steht er einige Zeit später wieder vor dem Statthalter. Der sieht keinen anderen Weg, als ihn einzusperren. So sitzt er nun in seinem Gefängnis. Zum Glück ist es mehr ein Hausarrest, denn er darf Besuche empfangen, die ihm über das Leben draußen berichten, und auch Briefe an seine Gemeinden im ganzen Land schreiben. Eines Tages erscheint Aquila mit einem ihm noch unbekannten jungen Mann. Onesimus heißt er, und ist Mitglied der Christengemeinde in Kolossäe. „Ich bin Sklave des Philemon“ stellt er sich vor. Ja, Paulus kennt Philemon gut, ist ihm freundschaftlich verbunden. Er freut sich schon auf einen Bericht aus der dortigen Gemeinde. Stattdessen trägt Onesimus jedoch eine Bitte vor, die Paulus in ein unruhiges Nachdenken stürzt.

„Paulus, Bruder im Glauben“, fängt er an, „du hast uns die Freiheit des Glaubens durch Jesus Christus gelehrt, in einer Gemeinschaft, in der es nicht länger Herrscher und Diener, Freie und Sklaven, sondern nur noch Schwestern und Brüder gibt. In diesem Sinne habe ich von Philemon verlangt, mich vom Dasein als Sklave zu befreien und zum vollgültigen Mitbürger werden zu lassen. Aber mein Herr hat das abgelehnt“. Paulus fragt nach, ob sich Onesimus im Dienst seines Herrn schlecht behandelt gefühlt hat oder von anderen in der Gemeinde Missachtung spüren musste. Aber jedes Mal schüttelt Onesimus den Kopf und sagt bestimmend: „Ich will nur eines, wirklich als freier Christenmensch ernstgenommen zu werden. Dem Reden von der Glaubensgemeinschaft der Freien in Jesus Christus sollen auch Taten folgen. Deshalb habe ich selbst meinen Weg in die Freiheit gesucht. Ich habe etwas für meinen Lebensunterhalt mitgenommen und bin zu dir hierhergekommen“. Paulus erschrickt: „Du kennst die Gefahren, die einem entlaufenen Sklaven drohen“, erwidert er. Onesimus nickt und fügt gleich an: „Deshalb ist mein Wunsch, von dir und der Gemeinde als freier Mensch anerkannt und nachträglich von Philemon losgekauft zu werden. Wäre das nicht genau die von dir verkündigte Christenpflicht?“ Es folgt ein langes Gespräch zwischen den beiden. Paulus erzählt seinem jungen Gast freundlich und geduldig, dass die Freiheit des Glaubens nicht die staatlichen Gesetze und Ordnungen des Zusammenlebens außer Kraft setzt. Vielmehr gehe es darum, in diesen Regeln diese Freiheit zu leben und sie mit den Taten der Nächstenliebe zu bekräftigen. „Aber diese Nächstenliebe habe ich von meinem Herrn Philemon vergeblich gefordert“, wendet Onesimus ein. Paulus antwortet: „Was du von ihm erzwingen wolltest, entspricht auch nicht der Freiheit. Die Lieben, die im Glauben wurzelt, muss und will aus freien Stücken kommen. Ich fürchte, deine Ungeduld hat deinen Herrn zu sehr bedrängt“. Darüber muss Onesimus nachdenken und schweigt lange. „Wie soll es jetzt mit mir weitergehen?“ fragt er dann. Paulus antwortet: „Du solltest zu Philemon zurückkehren“. Der Sklave schluckt betroffen, aber gleich fährt Paulus fort: „Ich werde dir einen Brief mitgeben, der dich als Boten ausweist und in dem ich meinen Freund ermutigen werde, der Liebe, die aus unserem Glauben erwächst, viel Raum zu geben“.

Als Paulus wieder allein ist, fängt er bald danach an zu schreiben. Er beginnt mit einem Gruß an Philemon und die Gemeinde und erinnert an die Freude über das Wachstum der Gemeinde, die er dort erleben durfte, auch an die Freundschaften, die entstanden sind. Dann murmelt er vor sich hin: „Ein Brief von mir hat für Philemon und die ganze Gemeinde großes Gewicht. Ich will Philemon nicht drängen, sondern ihm einen neuen Blick auf sein Verhältnis zu Onesimus eröffnen. Dann schreibt er weiter, wie sehr er den jungen Mann als einen aufgeweckten und glaubensstarkenChristenmensch erlebt und zu schätzen gelernt hat. „Ich würde ihn ja am liebsten hier bei uns behalten, aber das steht mir nicht zu. An dir ist es, das Gute, das ich von ihm berichte, auf dich wirken zu lassen. Die Entscheidung, ob und wie du ihn wieder aufnehmen willst, liegt allein bei dir“. „Ich muss noch ein bisschen nachlegen“, murmelt er wieder vor sich hin, und schreibt weiter: „Wenn es sein müsste, würde ich ihn ja selbst loskaufen. Wenn er zurückkehrt, bitte ich dich: Nimm ihn so wieder auf, wie du auch mich als Gast aufnehmen würdest“. „Das ist deutlich genug“, sagt er wieder zu sich, fügt noch Schlussgrüße und Segenswünsche an und legt dann zufrieden die Schreibfeder beiseite.

Nachdem er Onesimus am nächsten Tag den Brief übergeben und sich von ihm verabschiedet hat, wandern seine Gedanken zum Empfänger der Botschaft. „Ja, Freiheit und die Werke der Liebe gehören zusammen“, murmelt er vor sich hin, „aber manchmal ist es gar nicht so einfach damit“.

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