November 19 - Joachim Neander
Joachim Neander und sein Lied "Lobe den Herren, den mächtigen König"
Vorüberlegungen
Joachim Neander, 1650 in Bremen geboren und dort nach einem kurzen Leben 1680 gestorben, zählt zu den bedeutendsten evangelischen Liederdichtern. Aber während Martin Luther und Paul Gerhardt durch die Vielzahl ihrer Lieder im Evangelischen Gesangbuch hervortreten, konzentriert sich bei Neander alles auf ein einziges Lied, das bekannteste und am häufigsten gesungene: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“.
Joachim Neanders Lebensgeschichte lenkt unseren Blick auf das Liederschaffen im Bereich der evangelisch-reformierten Gemeinden, die weniger von der lutherischen als vielmehr von der calvinistischen Tradition geprägt ist. Während lutherische Liederdichter die Glaubensbotschaften mit ihrer eigenen Sprachkraft geformt haben, ließ Johannes Calvin nur das biblische Wort Gottes selbst zum gottesdienstlichen Singen zu – damit allein die in neue Melodien und Versmaß gefassten Psalmen des Alten Testaments, das Liederbuch der Hebräischen Bibel. Neander hat diese Engführung aufgebrochen. Sein bekanntestes Lied zeigt uns, wie er mit der Sprache der Psalmen, aus ihnen heraus Neues geschaffen hat, nämlich eigene Lieddichtungen.
In der Frömmigkeitsrichtung des Pietismus fand Joachim Neander seine geistliche Heimat. Nach Begegnungen vor allem mit Philipp Jakob Spener hat er das Miteinander in kleinen Gruppen gepflegt, die den vielfach erstarrten Kirchentraditionen eine lebendige Herzensfrömmigkeit entgegensetzten. Damit waren für Joachim Neander Konflikte mit der Gemeindeleitung, der er unterstellt war, unausweichlich.
Der für die Erzählung gewählte Schauplatz ist das Tal der Düssel zwischen Düsseldorf und Mettmann. Vor dessen weitgehender Zerstörung durch den Abbruch der Felsen zur Zementgewinnung war es eine enge, landschaftlich beeindruckende Schlucht. Hier trafen sich die Glaubensgeschwister um Neander zu Gesprächen, zum Singen und Beten – in der von Gott geschaffenen Natur statt hinter dicken Kirchenmauern. In Neanders zentralem Lied finden wir die Freude an der Schöpfung, bezogen auf das Wunder des eigenen Lebens als Gottesgeschenk. Als Lob der Schöpfung ist auch das Lied „Himmel, Erde, Luft und Meer zeugen von des Schöpfers Ehr“ (Evang. Gesangbuch Nr. 504) bekannt. Die Erzählung fußt auf all diesen und weiteren Informationen. Frei gestaltet ist deren Einbindung in Gespräche der Personen auf ihren Wegen im ‚Neandertal‘.
Damit ist schon angedeutet, wie Joachim Neander noch in ganz anderer Weise weltweite Berühmtheit erlangte: Die Bezeichnung des Düsseltals als ‚Neandertal‘ wurde allgemeiner Sprachgebrauch. Eine besondere Grotte im höhlenreichen Gestein, die Leuchtenburg mit ihrer besonderen Lichteinwirkung, wurde zur ‚Neanderhöhle‘, ein erhöhter kanzelartiger Platz zum ‚Neanderstuhl‘. Beim Abbruch des Felsgesteins wurde im August 1856 ein aufsehenerregender Fund gemacht: des Skelett eines Menschen, der am Ende der letzten Eiszeit, um 120.000 – 40.000 Jahren v.Chr. gelebt hat – ein Meilenstein in der Erforschung der Ursprünge des menschlichen Lebens. Als „Neandertaler“ ist er weltweit bekannt geworden.
Erzählung
Ein Grüppchen ist unterwegs im Tal der Düssel hinaus aus der Stadt Düsseldorf in Richtung Mettmann. Damals, um das Jahr 1675, war es noch eine durch zerklüftete Felsen begrenzte enge Schlucht. Der Weg führte vorbei an rauschenden Wasserfällen und mächtigen Tropfsteinhöhlen, die sich in den Felsen auftaten. Damals gab es noch keine Fabrik, die herausgebrochenes Felsgestein zu Zement verarbeitete. Unser Grüppchen ist unterwegs zu einer Andacht in der freien Natur. Sein Ziel ist die Leuchtenburg-Höhle, in deren Innerem von einer weit entfernten Öffnung her ein geheimnisvoller Lichtschein strahlt.
Der Weg im Düsseltal lädt ein, das Echo zu erproben, das von den Felsen zurückhallt. Immer wieder stimmt eine Person ein Lied an. Es sind Lieder aus dem Kirchengesangbuch der evangelisch –reformierten Gemeinde - Lieder, in denen die Psalmen aus dem Alten Testament so wortgetreu wie möglich in eine Liedform gebracht wurden. Der Reformator Johannes Calvin aus Genf hatte diese Psalmgesänge angeregt, um so den Bibelworten wieder ein musikalisches Gewand zu geben. „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe“, singt jemand, und eine andere Person singt weiter „Es ist der Herr, stark und mächtig“. Ein junger Mann, es ist Joachim Neander, Lehrer und Prediger in Düsseldorf, erklärt dazu: „Diese Wort hat man wohl damals in Jerusalem gesungen, bevor sich die Tore des großen Tempels öffneten und alle spürten: Jetzt kommt Gott zu uns“. Ein Bussard kreist hoch über den Felsen und stößt seine Schreie aus. Einer aus der Gruppe erzählt: „Ich konnte einmal beobachten, wie ein Adler eines seiner Jungen beim Fliegen unterstützt und seine Flügel unter ihm oder auch über ihm ausgebreitet hat. So trägt und schützt uns auch Gott durch Gefahren hindurch. Wir sprechen ja auch mit dem Lied des Mose (5. Mose 32,11): Wie ein Adler ausführt seine Jungen und über ihnen schwebt, so breitete er seine Fittiche aus und nahm ihn und trug ihn auf seinen Flügeln“. Eine Frau singt: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ Eine andere sagt dazu: „Ich habe als Kind noch den großen dreißigjährigen Krieg miterlebt, auch die Zeit des Hungers und der Armut nach seinem Ende. Und trotzdem will ich Gott dafür danken, dass er mich behütet und bewahrt und mich mit seinem Segen beschenkt hat. Das will ich nie vergessen!“ „Lasst uns Gott loben mit unseren Liedern“, ruft Joachim, und singt: „Alles, was Odem hat, was atmen kann, soll Gott den Herrn loben“.
Als das Grüppchen bei der Leuchtenburg-Höhle angekommen ist und in ihr zwischen den Jahrtausende alten Tropfsteinen Platz gefunden hat, in dieser Höhle mit dem großen Eingang auf der einen Seite und einem feinen, aber hellen Lichtschein weit hinten in ihr, da nimmt Joachim dieses Bild auch in seiner Andacht auf: „“Gott ist unser Licht und unsere Lebenskraft, wie wir es ja auch in unseren Liedern singen“. Dann fängt er selbst zu singen an, mit seinen eigenen Worten: „Er ist dein Licht, Seele, vergiss es ja nicht“. Er hört, wie einer zu seiner Nachbarin sagt: „Unser Joachim ist wirklich ein musikalisch begabter Mensch“. Und sie antwortet: „Und dichten kann er auch. Da möchte ich gerne noch mehr von ihm hören“.
Bei den Andachten, die diese Gruppe immer wieder hier im Tal der Düssel feiert, ist es üblich, dass sich zwischen dem Singen, Beten und Hören Gespräche ergeben. Heute sind ein paar Neue dabei. Die möchten mehr über Joachim Neander erfahren. Er muss wohl eine sehr einflussreiche, wichtige Person in der Gruppe sein, denn sein Name ist auf dem Herweg schon öfter gefallen. „Schön ist es hier im Neander-Tal“, hat jemand gesagt. Ein anderer hat von der Neander-Höhle gesprochen, und wieder jemand hat den erhöhten Platz, von dem aus Joachim zu allen gesprochen hat, „Neander-Stuhl“ genannt.
Joachim nutzt die Gelegenheit, um ein bisschen von sich zu erzählen. „Ich bin in Bremen geboren und aufgewachsen“, beginnt er. „Mein Vater war Lehrer an der Lateinschule und meine Mutter dort Musiklehrerin“. „Daher kommt also deine Begabung zum Dichten und Singen“, sagt jemand dazwischen. Joachim nickt zustimmend und fährt fort: „Ich habe in Bremen auch angefangen, Theologie zu studieren, um Pfarrer zu werden wie einige meiner Vorfahren. Aber das Studium hat mich nur wenig angesprochen. Dazu habe ich keine Begeisterung verspürt. Doch dann war alles auf einmal anders. Ein neuer Pfarrer kam nach Bremen. Zuerst habe ich seine eindringlichen Predigten eher hochmütig belächelt. Aber dann ging es mir plötzlich durch und durch. Ich wurde ein anderer Mensch“. Er hält kurz inne, lächelt und sagt: „Vielleicht hat das ja auch mit meinem Namen zu tun. Einer meiner Vorfahren hat den deutschen Namen ‚Neumann‘ ins Griechische übertragen: Neander – neuer Mensch!“ Aufmerksam hören die Freunde zu und Joachim erzählt weiter: „Ich musste viel an Paulus denken, der auf seinem Weg nach Damaskus von Gott wie von einem Blitz getroffen wurde. Jetzt suchte ich die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, um mit ihnen zu reden, singen und beten - so, wie wir es auch hier tun. Ich bekam dann den ehrenvollen Auftrag, fünf Kaufmannssöhne aus der französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt zu ihrem Studium in Heidelberg zu begleiten. Dort studierte auch ich weiter Theologie, jetzt mit ganz anderem Herzen. Ich fand auch dort wieder Heimat im Kreis von Gleichgesinnten, die überzeugten Christen sein wollten, übernahm auch Dienste in der reformierten Gemeinde. Ich lernte neben den eigenen theologischen Tradition des Calvinismus auch die des Luthertums kennen und freute mich immer, wenn es Lieder gab, die zwischen den unterschiedlichen Lehrmeinungen Brücken schlugen“.
Joachim macht wieder eine Pause und erzählt dann weiter. „Ich habe auch viele herrliche Lieder der lutherischen Reformation kennengelernt. Da werden nicht nur die Psalmen wortgetreu nachgedichtet, so wie wir es auf dem Herweg gesungen und uns über das Echo gefreut haben. Sondern da wurde und wird viel freier gedichtet. Die ganze Zeit gehen mir unsere Psalmlieder durch den Kopf – aber jetzt ist etwas Neues in mir da, in dem die verschiedenen Bibelworte zueinander finden“. Dann lächelt er schüchtern und sagt: „Ich habe keine Instrumente da, wie den Psalter damals in Israel oder die Harfe, um mit ihr das Lied zu erwecken. Meine Stimme soll genügen. Und er singt: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, meine geliebete Seele, das ist mein Begehren. Kommet zuhauf, Psalter und Harfe wacht auf, lasset den Lobgesang hören“.
Er singt es noch einmal und noch einmal. Er spürt die Freude der anderen an seinem Lied, freut sich, wie sie nach und nach alle mit einstimmen.
Etliche Monate später ist Joachim Neander wieder unterwegs in seinem Tal. Das Lied, dessen Beginn bei der Andacht in der Neander-Höhle entstanden war, hat er inzwischen weitergedichtet. Er hat einen guten Freund bei sich, dem er erklärt: „Inzwischen habe ich auch eine Melodie gefunden, die sehr gut zu meinem Lied passt – besser als ich damals in der Höhle gesungen habe“, und er singt sein Lied mit dieser Melodie. „Woher hast du diese Melodie“, fragt der Freund, und Joachim antwortet: „Ein fröhliches Studentenliedlein war es ursprünglich. In der Marienkirche in Stralsund wurde es zum ersten Mal zu einer Kirchenliedmelodie“. Der Freund meint dazu: „Es ist eine lustige Melodie, im Dreiertakt“, und ergänzt dann überrascht: „Du hast ja auch im Dreiertakt gedichtet. Lo-be-den-Her-ren,-den-mäch-ti-gen-Kö-nig-der-Eh-ren. Darf man das überhaupt bei einem Kirchenlied?“ Joachim antwortet: „Ich wollte ja eigentlich kein Kirchenlied dichten, sondern eher ein Lied für unterwegs wie hier im Düsseltal, oder für zuhause, oder bei einem Fest - eigentlich immer, wenn es Grund gibt, Gott zu loben und zu danken. Aber..“ er zögert, „Warum sollten nicht auch in unsere Gottesdienste fröhlich hüpfende Lieder einziehen, so wie das Lied in Stralsund gesungen wurde? Es muss ja nicht nur das Düsseltal sein, wo man sich am Echo freuen kann. Dann lächelt er verschmitzt und sagt: „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass am Ende jeder Verszeile ein Zweiertakt steht. Komm, wir singen das Lied und hören auf das Echo“. Und tatsächlich, laut und deutlich klingt das Echo: Lobet den Herren den mächtigen König der Ehren – der Ehren. Meine geliebete Seele, das ist mein Begehren – Begehren. Kommet zu Hauf – zu Hauf, Psalter und Harfe wacht auf – wacht auf. Lasset den Lobgesang hören – hören. Beide lachen vergnügt und Joachim überlegt: „Vielleicht kann man ja anderswo dieses schöne Echo einfach dazu singen. Ich werde es einmal auch so aufschreiben“. Dann singt Joachim seinem Freund das ganze Lied mit allen seinen Strophen vor, und der sagt: „Die Erlebnisse von dem Tag neulich haben in Dir ja kräftig weitergearbeitet. Es ist ein wunderbares Lied, das so entstanden ist".
Sie gehen eine Weile schweigend weiter, dann fängt der Freund an: „Ich habe wohl mitbekommen, dass unsere Andachten an der Neander-Höhle der Kirchenleitung in Düsseldorf nicht gefällt. Die haben dort Sorge, dass sich unsere Gruppe, die es mit dem Glauben besonders ernst meint, von der Gesamtgemeinde abspaltet“. Joachim fährt dazwischen: „Wir wollen doch nicht spalten, sondern unsere kleinen Gruppen könnten wie ein geistlicher Dünger für die ganze Gemeinde sein“. Der Freund erwidert: „Aber das sieht dein Gemeindevorstand wohl anders. Warum sonst wollte er dich als ihm Untergebenen in der Schule dazu zwingen, mehr in der Gottesdienstgemeinde und weniger bei unseren Gruppentreffen zu sein?“ Joachim nickt: „Wohl fühle ich mich unter diesem Zwang ganz und gar nicht. Deshalb will ich mir auch eine andere Beschäftigung suchen, Vielleicht finde ich etwas in meiner Heimatstadt Bremen“. „Dann wirst du uns hier sehr fehlen“, antwortet der Freund.
„Ja, das wird mir auch schwerfallen“, sagt Joachim. Aber vielleicht hilft euch dann die Sammlung meiner Lieder weiter, die mein Abschiedsgeschenk sein wird. Ich habe mir auch schon den biblischen Leitsatz dazu ausgesucht: ‚Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Felswand, zeige mir deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme‘ (Hoheslied 2,14). „Das wird eine gute Erinnerung für uns sein“, antwortet der Freund, „nachdem wir hier in diesem Tal so viel Gutes erlebt haben – trotz des Ärgers, den du in der Auseinandersetzung mit deiner Gemeindeleitung ertragen musst“. „Auf alle Fälle glaube ich“, erwidert Joachim, dass die Jahre hier in Düsseldorf und dem Tal die wichtigsten in meinem Leben sind“.
Joachim ahnt noch nicht, dass zum einen sein Lied „Lobe den Herren“ das bekannteste Kirchenlied werden wird, und auch nicht, dass viele Jahre später noch auf eine ganz andere Weise sein Name mit dem Düsseltal verbunden sein wird. Denn eines Tages wird beim Absprengen der Felsbrocken eine neue Höhle entdeckt und in ihr das Skelett eines Menschen, der vor vielen, vielen tausend Jahren gelebt hat. Es ist eine Ereignis, das große Beachtung findet. Man nennt diesen Menschen den Neandertaler, unzählig vielen Menschen bis in unsere Gegenwart hinein ist dieser Name vertraut. Viele, viele Menschen kennen auch das berühmte Lied „Lobe den Herren“. Aber wie beides miteinander verbunden ist, das wissen die wenigsten.
Nachtrag:
Ein Besucher des Neandertaler-Museums in Mettmann hatte wohl nicht recht aufgepasst und fragte zum Schluss der Fürhung: "Und woher weiß man eigentlich, dass der Neandertaler Joachim geheißen hat?"