Zur Entstehung des Liedes 'Vom Himmel hoch, da komm ich her'

 

Vorbemerkungen

Das wohl bekannteste Gesangbuchlied Martin Luthers ist das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Die nachfolgende Geschichte erzählt von der Entstehung dieses Liedes zum Christfest 1534, wie Luther im Verfahren der sog. Kontrafaktur ein weltliches „Kränzellied“ am Anfang seiner eigenen Neuschöpfung fast wortwörtlich aufgenommen und daraus die folgenden Strophen entwickelt hat. In ihnen spannt Luther den Bogen von der Engelsbotschaft zu deren Bedeutung für die Gegenwart. Erst einige Jahre später hat der Liederdichter auch die uns bekannte Melodie für dieses Lied geschaffen. In der Erzählung wird dies aus erzählerischen Gründen noch demselben Weihnachtsfest zugeordnet. Unklar geblieben ist bis heute, ob Luther das Lied für die eigene Familie oder die ganze Gemeinde bestimmt hat. Die Erzählung ordnet es zunächst der Familie zu, zumal die Geburt von Tochter Margarete kurz vor Weihnachten 1534 gut dazu passt. Sie nimmt dann in erzählerischer Freiheit auch weitere Kreise in den Blick, greift dabei auf Luthers eigene Kindheitserfahrungen als Kurrendesänger in Eisenach zurück. Wie in früheren Erzählungen in der Reihe der ‚Geschichten des Monats‘ werden auch hier die historischen Zusammenhänge in erdachten Szenen und Dialogen entfaltet. Die überlieferte Liedüberschrift „Ein Kinderlied auf die Weihnacht“ ist ein Impuls, mit dieser Erzählung auch die Kinder von Martin und Katharina Luther mit ins Spiel zu bringen.

 

Erzählung

In den Adventswochen des Jahres 1534 ist im Hause Luther, im ehemaligen Augustinerkloster in Wittenberg, manches anders als sonst. Zum einen sind die Festvorbereitungen zum Christfest im Gange, zum anderen braucht Martin Luthers Frau Katharina Ruhe, denn die Geburt ihres fünften Kindes steht unmittelbar bevor. Und so sitzen heute am Nikolaustag die Eltern und Kinder ohne die ständigen Gäste im Haus beisammen. Auch Muhme Lene ist da, Katharinas Tante, die ihr in diesen Wochen besonders viel Arbeit abnimmt. „Schade, dass wir heute keine Geschenke bekommen, wie viele andere Kinder“, sagt der neunjährige Hans. Die sechsjährige Magdalena antwortet: „Dafür bekommen wir sie am Christfest“. „Ach, da müssen wir ja noch so lange warten“, meint der vierjährige Martin. Mutter Katharina erwidert: „So lange ist das gar nicht mehr. Und wenn ihr das Warten ausgehalten habt, freut ihr euch umso mehr über die Geschenke“. Vater Martin nimmt diese Worte auf und ergänzt: „Und das Christkind fragt euch nicht eindringlich, ob ihr das Jahr über brav gewesen seid und euch damit die Geschenke redlich verdient habt. Es zählt auch nicht die schlechten Taten auf und droht mit der Rute. Sondern es ist einfach da, als Gottes Geschenk für uns alle“. Magdalena sagt: „Vielleicht ist ja an Weihnachten unser Geschwisterchen schon geboren, dann können wir ihm ein Wiegenlied singen: ‚Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kindelein‘. Hans spielt den Josef, ich die Maria und Martin und Paul sind die Hirten“.

Als Muhme Lene die Kinder dann zu Bett bringt, sitzen Martin und Katharina noch ein Weilchen beisammen und genießen die Ruhe. Martin meint: „Es ist doch schön, wie sich die Kinder auf Weihnachten freuen. Und ich freue mich so sehr auf unser jüngstes Kind. Wer ein neugeborenes Kind ansieht, der hat Gott auf frischer Tat ertappt“. Katharina lacht. „Vielleicht geht den Menschen auch deshalb die Weihnachtsbotschaft so sehr zu Herzen. Mich freut es, wenn die Kinder Weihnachtslieder singen und spielen“. Da meint Martin nachdenklich: „Aber eigentlich fehlt bei diesen Liedern rings um die Krippe noch etwas“. „Wieso?“ fragt Katharina, „da geht es doch um das größte Wunder Gottes, das dieses kleine Menschenkind Jesus für uns ist!“ Martin erwidert: „Aber das Evangelium, die frohe Botschaft, die verkündet der Engel. Wir bräuchten noch ein Engellied zu dem, was er verkündet. Er verweist schon auf das, was der erwachsene Jesus für uns geworden ist: Er ist Christus, der Herr, der Heiland, der Friedensbringer!“

Katharina seufzt: „Ja, das können wir gut brauchen in dieser unruhigen Zeit“. Sie gibt sich einen Ruck und sagt dann: „Martin, lass dir etwas einfallen. Es muss eine Melodie sein, die sofort ins Ohr geht, die man gleich nachsingen kann, zu einfachen gereimten Textzeilen. Ich muss da gerade an die Sommertage denken, an denen die Kinder Reigen getanzt und das Kränzellied gesungen haben. Immer wieder ist ein Junge als Bote vorgetreten und hat gesungen: ‚Ich komm aus fremden Landen her und bring euch viel der neuen Mär. Der neuen Mär bring ich so viel, mehr denn ich euch hier sagen will‘. Und dann musste er irgendeine interessante Sache erzählen. Und der Junge, der das am besten gekonnt hat, dem haben die Mädchen dann einen Blütenkranz aufgesetzt. Die Melodie habe ich immer noch im Ohr; die Kinder haben sie so oft gesungen“. Und sie summt vor sich hin:


 

Am nächsten Tag sitzt Vater Martin wie so oft in seiner Schreibstube und bereitet seinen Unterricht bei den Studenten vor. Er wird mit ihnen die Weihnachtsgeschichten im Matthäus- und Lukasevangelium besprechen. Aber da blitzt ein Gedanke durch seinen Kopf und lässt ihn nicht mehr los. Er schiebt das Blatt mit seinen Überlegungen zu den Bibeltexten auf die Seite. Dann nimmt er ein neues Blatt zur Hand und murmelt: „Ja, das ist es. Der Verkündigungsengel ist der Bote aus fernem Land!“ Und er schreibt:

       Vom Himmel hoch, da komm ich her,
       ich bring euch gute neue Mär,
       der guten Mär bring ich so viel,
       davon ich sing’n und sagen will.

 

Er hält inne, denkt nach, und dann sprudeln geradezu die folgenden Reimzeilen aus ihm heraus:

        Euch ist ein Kindlein heut geborn
        von einer Jungfrau auserkor’n,
        ein Kindelein so zart und fein,
        das soll eu’r Freud und Wonne sein.

        Es ist der Herr Christ, unser Gott,
        der will euch führ’n aus aller Not,
        er will eu’r Heiland selber sein,
        von allen Sünden machen rein.

        Er bringt euch alle Seligkeit,
        die Gott der Vater hat bereit‘,
        dass ihr mit uns im Himmelreich
        sollt leben nun und ewiglich.

        So merket nun das Zeichen recht:
        die Krippe, Windelein so schlecht,
        da findet ihr das Kind gelegt,
        das alle Welt erhält und trägt.

 

Martin blickt zufrieden auf und sieht erst jetzt, dass Philipp Melanchthon, sein engster Mitarbeiter und Freund, in der Tür steht. Der meint lachend: „Martin, was ist denn in dich gefahren? Du hörst ja gar nicht, wenn es an der Tür klopft. Du summst das Kränzellied vom Sommerreigen immer wieder vor dich hin und schreibst und schreibst. Du machst mich neugierig!“ „Gut, dass du da bist“, antwortet Martin. Er erzählt ihm von dem Gespräch mit Katharina und von seiner Idee. Philipp ist begeistert und meint: „Das ist eine Weihnachtsbotschaft, die zu Herzen geht. Da ist dir etwas ganz Wertvolles gelungen. Aber“, er hält kurz inne, „zur Weihnachtsbotschaft gehört auch dazu, dass wir bedenken, was sie für uns heutzutage bedeutet“. Martin nickt und meint: „Wir können doch auch heute nur darüber staunen, wie der große Gott in diesem kleinen Kind zu uns kommt, dass er selbst einzieht in den engen, ärmlichen Stall“. Philipp ergänzt. „Mir ist auch wichtig, dass Gott selbst mit diesem Jesuskind in unser Herz einziehen will und uns so zu anderen, neuen Menschen verwandelt“. Da nimmt Martin schon wieder die Schreibfeder in die Hand und sagt: „Vielen Dank, Philipp, für deine Anregungen. Ich hab‘ schon eine Idee, wie das Lied weitergehen kann“. „Dann will ich dich nicht aufhalten“, antwortet Philipp. Und wieder summt Martin immer neu die Melodie vor sich hin und formt Zeile um Zeile die nächsten Strophen:

        Des lasst uns alle fröhlich sein
        und mit den Hirten gehn hinein,
        zu sehn, was Gott uns hat beschert,
        mit seinem lieben Sohn verehrt.

        Merk auf, mein Herz und sieh dorthin:
        was liegt doch in dem Krippelein?
        Wes ist das schöne Kindelein?
        Es ist das liebe Jesulein.

        Sei mir willkommen, edler Gast!
        Den Sünder nicht verschmähet hast
        und kommst ins Elend her zu mir:
        wie soll ich immer danken dir?

        Ach Herr, du Schöpfer aller Ding,
        wie bist du worden so gering,
        dass du da liegst auf dürrem Gras,
        davon ein Rind und Esel aß!

        Und wär die Welt vielmal so weit,
        von Edelstein und Gold bereit‘,
        so wär sie doch dir viel zu klein,
        zu sein ein enges Wiegelein.

        Der Sammet und die Seiden dein,
        das ist grob Heu und Windelein,
        darauf die König groß und reich
        herprangst, als wär’s dein Himmelreich.

        Das hat also gefallen dir,
        die Wahrheit anzuzeigen mir,
        wie aller Welt Macht, Ehr und Gut
        vor dir nichts gilt,
        nichts hilft noch tut.

        Ach mein herzliebes Jesulein,
        mach dir ein rein sanft Bettelein,
        zu ruhen in meins Herzens Schrein,
        dass ich nimmer vergesse dein.

        Davon ich allzeit fröhlich sei,
        zu springen, singen, immer frei
        das rechte Susaninne schön,
        mit Herzenslust den süßen Ton.
               (Susaninne = Wiegenlied)

 

„So, und jetzt noch einen Schlussvers, der alles zusammenfasst“, sagt Martin vor sich hin und schreibt noch:

        Lob, Ehr‘ sei Gott im höchsten Thron,
        der uns schenkt seinen ein’gen Sohn.
        Des freuet sich der Engel Schar
        und singet uns solch neues Jahr.

 

Als Martin und Katharina am Abend wieder beieinandersitzen, nimmt Martin seine Laute zur Hand, singt und spielt seiner Frau das neue Lied vor. „Das ist genau das Lied, das uns noch gefehlt hat“, meint sie anerkennend. „Wieder einmal hast du dem Volk aufs Maul geschaut, wie du so gerne sagst, diesmal den Kindern bei ihrem Kränzellied, bei ihrem Singen und Spielen. Das Lied passt für die Kinder und auch für die Großen. Dass du die Engelsbotschaft so in Verse gefasst hast, das ist deine besondere Begabung und ein Weihnachtsgeschenk für mich, für unsere Kinder und für alle in Wittenberg und darüber hinaus. Das gilt auch für die Übertragung dieser Botschaft für uns heute, dass vor dem großen Geschenk Gottes für uns aller irdischer Reichtum bedeutungslos wird“. Martin nickt und singt noch einmal die Strophe:


        Das hat also gefallen dir,
        die Wahrheit anzuzeigen mir,
        wie aller Welt Macht, Ehr und Gut
        vor dir nichts gilt, nichts hilft noch tut.

 

Katharina spricht weiter: „Und wie die Weihnachtsfreude in unser Herz einziehen will, das können auch schon die Kinder auf ihre Weise gut erfassen“. „An unsere Kinder habe ich ganz besonders bei diesen Versen gedacht“, antwortet Martin und singt.

        Ach mein herzliebes Jesulein,
        mach dir ein rein sanft Bettelein,
        zu ruhen in meins Herzen Schrein,
        dass ich nimmer vergesse dein.

        Davon ich allzeit fröhlich sei,
        zu springen, singen, immer frei
        das rechte Susaninne schön,
        mit Herzenslust den süßen Ton.

 

„Das Lied passt ja mit diesem Schluss gut zu einem Krippenspiel“, meint Katharina, „zuerst bei den Hirten auf dem Feld mit der Engelsbotschaft. Dann ziehen sie zum Stall und singen dort das Wiegenlied so wie bisher. Die Botschaft des Engels begleitet sie also zum Stall“. „Wir könnten auch“, spinnt Martin die Idee weiter, „mit diesem Lied am Christfest von Haus zu Haus ziehen, so wie ich es als Kind damals in Eisenach zusammen mit anderen Schulkameraden getan habe. Wir nehmen auf einem Stecken einen großen Stern mit, der verweist auf den Engel und seine Botschaft. Ja, so könnten wir es machen!“

Doch dann hat Katharina Bedenken: „Die Melodie des Liedes erinnert sehr an die Sommerzeit . Werden die Leute da nicht zu sehr von der weihnachtlichen Engelsbotschaft abgelenkt?“ Martin meint: „Eigentlich will ich ja, dass die Botschaft mit bekannten Liedern gut ins Ohr geht. Es sollen Melodien sein, die einem leicht in den Sinn kommen, die einen begleiten, die man gut vor sich hinsingen und pfeifen kann“. „Aber in der Weihnachtszeit ist das doch anders“, antwortet Katharina. „Da passen die Sommer-Erinnerungen nicht so gut dazu“. Martin nickt, und nach einer Pause sagt er: „Ich muss darüber noch weiter nachdenken. Auf jeden Fall muss es eine ganz einfache Melodie sein, die gut zu dem Text passt“.

Katharina ist schon zu Bett gegangen, aber Martin lässt die Sache mit der passenden Melodie nicht los. Er nimmt wieder seine Laute und probiert Melodien aus. Er merkt es zuerst gar nicht, dass er bei den ersten Worten „Vom Himmel hoch“ wie von selbst mit einem ganz hohen Ton ansetzt und dann mit der Melodie abwärts steigt. „Ja, das passt“, sagt er zufrieden zu sich. „Von oben kommt die Botschaft herunter zu den Hirten, aber nicht bloß wie eine Tonleiter. Der Engel bleibt oben“. Er summt die erste Melodiezeile.
 

„Aber die gute neue Botschaft kommt herunter zu den Menschen“, murmelt Martin weiter, und er summt die zweite Zeile.

 

Dann kommt ihm die biblische Geschichte von Jakob und der Himmelsleiter (1.Mose 28) in den Sinn und wie dort die Engel ab- und aufsteigen. „So soll es auch mit meiner Melodie weitergehen“, murmelt Martin vor sich hin. „Aber in dem Auf und Ab senkt sich die Botschaft immer mehr zu den Menschen herunter auf die Erde.

Und dann kommt sie im Schlussvers als Tonleiter wie eine Engelsleiter mit dem tiefsten Ton ganz unten bei den Menschen an“.

 

Immer wieder probiert Martin mit der Laute die Melodie durch, ändert da und dort noch ein bisschen und sagt dann: „So ist es gut“.

Das sagt am nächsten Tag auch Katharina. „Melodie und Verse passen jetzt so gut zusammen, dass sie sich gegenseitig unterstützen. Dieses Lied wird den Kindern und Erwachsenen ins Ohr und ins Herz gehen“.

Und dann kommt das Weihnachtsfest. Die kleine Margareta ist inzwischen geboren und gerade acht Tage alt. Alle miteinander bestaunen das Neugeborene und singen ihm die weihnachtlichen Wiegenlieder. Und dann machen sich die vier anderen Kinder, zusammen mit Nachbarskindern auf den Weg, gehen von Haus zu Haus. Muhme Lene hat die Kleinen als Engel verkleidet, die Größeren tragen an Stäben Sterne. Gemeinsam singen sie das neue Lied „Vom Himmel hoch“, immer wieder. Immer mehr Kinder schließen sich an, auch Erwachsene. Gemeinsam ziehen sie dann in die Stadtkirche, wo sie zu einer Weihnachtsandacht erwartet werden.

Als etliche Tage später Martin mit Philipp vom Augustinerkloster zur Schlosskirche geht, da hören sie, wie in manchen Häusern Kinder das neue Lied singen. Martin meint zu Philipp: „Wir brauchen nicht nur neue Lieder für den Gottesdienst, sondern viele Lieder, die man immer singen kann, wenn es einem danach ist, vom Morgen bis zum Abend und nicht nur zur Weihnachtszeit. So kommt die Botschaft Gottes zu den Menschen und in ihre Herzen“.

 

Verwendete Literatur
Martin Geck: Luthers Lieder. Leuchttürme der Reformation, Hildesheim 2017, 2.Aufl.
Martin Rößler: Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte in Lebensbildern, Stuttgart 2001.
 

 

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