Juli 2016
Katharina von Bora (Teil 1)
Vorüberlegungen
Die sog. „Lutherdekade“ der Evangelischen Kirchen in Deutschland strebt ihrem Höhepunkt am 31. Oktober 2017 entgegen - dem 500. Jahrestag von Luthers Thesenanschlag in Wittenberg, der die reformatorische Bewegung in Gang gesetzt hat. Viel ist in diesem Zusammenhang von Luther und seinen Mitstreitern die Rede, aber wenig von den Frauen, die zum reformatorischen Geschehen auch etliches beitrugen.
Diese Erzählung, der noch ein zweiter Teil zum Leben Katharinas als Luthers Ehefrau in Wittenberg folgen wird, bringt uns die Zusammenhänge und Hintergründe der Flucht aus dem Kloster Nimbschen nach Wittenberg nahe.
Katharina wurde am 29. Januar 1499 vermutlich in Lippendorf, südlich von Leipzig geboren. Ihre Mutter starb bald nach der Geburt, 1505 heiratete der Vater erneut. Hans von Bora bewirtschaftete ein landwirtschaftliches Gut, auf dem Katharina die ersten Lebensjahre verbrachte. Als sie fünf Jahre alt war, kam sie in die Klosterschule in Brehna bei Bitterfeld mit dem Ziel, eine gute Ausbildung zu erwerben. Mit etwa 10 Jahren wechselte sie in das Zisterzienserinnenkloster Nimbschen bei Grimma, etwa 25 km von ihrem Familiensitz entfernt. Schon mit 16 Jahren legte sie dort ihr Gelübde als Nonne ab.
Obwohl die Nonnen in Nimbschen ziemlich abgeschieden von der sie umgebenden Welt lebten, sickerten doch die Ereignisse durch, die von Wittenberg ausgingen. Luthers kritische Äußerungen zum Klosterleben und den Klostergelübden waren Konsequenzen seiner neu gewonnenen theologischen Basis: die gnädige Zuneigung Gottes muss nicht mit frommen Leistungen erworben werden, sondern ist ein Gottesgeschenk. Damit waren für ihn jegliche Gelübde hinfällig, die sich aus einem religiösen Leistungszwang ergaben. Zwölf Nonnen in Nimbschen beschlossen, motiviert durch diese theologische Sichtweise, das Kloster zu verlassen. Nur drei von ihnen wurden wieder von ihren Familien aufgenommen, die anderen, darunter auch Katharina, wagten am 4. April 1523 die Flucht aus dem Kloster.
Die Erzählung versucht zum einen das Ringen um die Entscheidung der Nonnen zugänglich zu machen. Zum anderen versucht sie nachzuempfinden, wie viel Mut diese Frauen aufbrachten, sich mit ihrer Flucht auf eine ungewisse Zukunft einzulassen. Immerhin galten entlaufene Nonnen damals als ehr- und rechtlos, Beihilfe zu solcher Flucht konnte bis zur Todesstrafe hin geahndet werden.
Erzählung
Mitten in der Nacht wird Katharina vom Geläut der Glocke geweckt. Und wie all die vielen Nächte zuvor steht sie auf und seufzt vor sich hin: „Also auch heute wieder, damit Gott mir und meiner Familie gnädig ist“. Sie verlässt noch halb im Schlaf ihre Klosterzelle und geht schweigend mit den anderen Nonnen des Klosters Nimbschen hinüber in die Kirche zum nächtlichen Gebet. Auf dem Rückweg flüstert ihr die Mitschwester Magdalene noch kurz zu: „Es gibt Neuigkeiten aus Wittenberg. Morgen erzähle ich dir mehr dazu!“ Dann verschwindet Katharina wieder in ihrer Zelle, um ihren Schlaf fortzusetzen. Aber sie kann nicht gleich wieder einschlafen. Magdalenas kurzer Satz hat sie neugierig gemacht. Wittenberg, das heißt auch Martin Luther und seine Schriften, in denen viel vom Glauben als Gottesgeschenk die Rede ist. Indem sie daran denkt, wacht in ihr wieder das Gefühl auf, das sie schon seit längerer Zeit kennt: ein Gefühl der Unzufriedenheit mit ihrem Leben hier im Kloster.
Seit über zwölf Jahren ist sie nun schon hier. Damals, als sie zehn Jahre alt war, wurde sie von ihrem Vater hierher gebracht. Und seither lebt sie in diesem Kloster in der Gemeinschaft mit den anderen Frauen, aber abgeschieden von der Welt draußen. Seit einer Weile fragt sie sich immer öfter: ‚Warum sind wir sogar bei den Gottesdiensten mit einem hohen Gitter von den Leuten aus dem Ort getrennt? Wie geht es wohl draußen außerhalb des Klosters zu? Ob ich wohl jemals die Welt außerhalb des Klosters kennenlernen kann? Hier gibt es nur die Welt der Gebete, Gesänge und Bücher, die Arbeiten in Haus und Garten. Und draußen vor dem Kloster, da gibt es so viel Neues!‘
Wild gehen Katharina die Gedanken durch den Kopf: ‚War es richtig, dass sie schon mit 16 Jahren ihr Klostergelübde abgelegt und sich für immer zum Leben im Kloster verpflichtet hat? Ist es das, was Gott von ihr verlangt, dass sie täglich mit ihren Gebeten Gott dient, damit sie und ihre Familie nach dem Tod gnädig von Gott in sein Himmelreich aufgenommen werden?‘ Kalt war es in der Kirche und auf dem Gang dorthin, schließlich ist es noch Winter. Sie hat gefroren und nur mühsam kehrt unter ihrer Decke die Körperwärme zurück. Endlich findet sie den Schlaf, bis sie am frühen Morgen erneut von der Glocke zum Gebet geweckt wird.
Katharina kann es kaum erwarten, bis sie eine Gelegenheit findet, bei gemeinsamen Arbeiten im Haus mit ihrer Mitschwester Magdalene zu reden. „Was hast du heute Nacht mit den Neuigkeiten aus Wittenberg gemeint?“ fragt sie. Magdalene antwortet: „Der Doktor Martin Luther hat in seiner neuesten Schrift an den Klöstern heftig Kritik geübt. Das ist mir bei einem Besuch von meinen Geschwistern zugetragen worden.“ Katharina ist hellwach. Sie muss an das denken, was ihr in der Nacht durch den Kopf gegangen ist. Neugierig fragt sie: „Und was ist die Kritik des Martin Luther?“
Magdalene erklärt ihr: „Also, es ist nicht nötig, Gott mit anstrengenden Gebeten freundlich zu stimmen. Gott freut sich viel mehr über jedes Gebet, das von Herzen kommt.“ – „Das heißt also“, wirft Katharina ein, „wenn wir in Kälte und Müdigkeit in der Kirche beten, ist das nicht mehr wert, als wenn wir Gott bei allen möglichen Gelegenheiten am Tag sagen, was uns beschäftigt?“ Magdalene ergänzt: „Die Gebete im Kloster sind nicht mehr wert als die vielen anderen Gebete, die Menschen tagtäglich beten. Martin Luther sagt, Gott schaut freundlich auf uns, und diese Freundlichkeit müssen wir uns nicht durch besonders fromme Taten verdienen, auch nicht, indem wir hier im Kloster besonders viel beten“.
Katharina schweigt und meint schließlich: „Dann könnten wir eigentlich genauso gut das Kloster verlassen“. Und sie fährt nachdenklich fort: „Aber das geht nicht, wir haben ja geschworen, dass wir unser ganzes Leben als Nonnen im Kloster Gott widmen. Sagt Martin Luther dazu auch etwas?“ Magdalene antwortet: „Ja, dazu schreibt er auch etwas. Das Gelübde gilt nicht, wenn es aus einem Irrtum heraus entstanden ist - nämlich eben dem, dass man von Gott durch viel Frömmigkeit besonders viel Freundlichkeit und Liebe erhalten kann. Das gilt ganz besonders dann, wenn der Eintritt ins Kloster keine freie Entscheidung war, sondern der Wille von Eltern oder anderen Verwandten“. Katharina nickt. Sie muss daran denken, wie sie schon mit zehn Jahren ins Kloster geschickt wurde. In den nächsten Tagen kommt sie nicht von dem los, was Magdalene ihr von Martin Luther erzählt hat.
Einige Tage später rollt ein Pferdewagen in den Klosterhof. Leonhard Koppe, der Händler aus der Stadt Torgau, bringt wieder einiges von dem, was im Kloster benötigt wird: „Säcke mit Mehl, gedörrtes Obst, gesalzene Fische und manch anderes. Katharina und Magdalene helfen beim Abladen und kommen mit Koppe ins Gespräch. Sie merken bald, dass er aufmerksam und mit großem Interesse all das verfolgt, was in Wittenberg geschieht. „Immer mehr Mönche verlassen ihr Kloster“, berichtet er, „weil sie ihre Lebensaufgabe jetzt außerhalb der Klöster sehen. Dort wollen sie mit ihrem Leben Gott dienen, in all den Berufen, die es gibt“.
Diese Nachricht erreicht auch die anderen Frauen im Kloster. Immer wieder stecken sie ihre Köpfe zusammen und reden darüber, ob sie nicht auch das Kloster verlassen wollen. All das muss unbemerkt geschehen, denn die Leiterin des Klosters, die Äbtissin, würde das ganz bestimmt nicht zulassen. An den heimlichen Gesprächen zwischen Katharina und Magdalene nehmen inzwischen auch andere Nonnen teil und schmieden im Stillen Pläne, wie sie die Klostermauern hinter sich lassen könnten. „Wie wir aus dem Kloster fliehen, ist das eine Problem“, meint Veronika. „Das andere und wahrscheinlich noch größere ist, was hernach mit uns geschehen soll. Wir als Frauen können doch nicht einfach so wie die Männer einen Beruf ergreifen.“ Die anderen nicken nachdenklich. Elisabeth meint: „Wir könnten ja unbemerkt unseren Familien eine Nachricht zukommen lassen und sie fragen, ob sie uns wieder aufnehmen würden“. „Ja, das ist eine gute Idee“, meinen die anderen.
So geschieht es und gespannt warten die Frauen auf Antwort. Nach einigen Wochen kommen sie wieder zusammen und machen enttäuschte Gesichter. Bei den meisten kam eine ablehnende Nachricht. „Die wollen uns nicht“, klagen die Frauen. „Eine entlaufene Nonne aufzunehmen wäre für sie eine große Schande. Mit der Verachtung durch die Nachbarn wollen sie nicht leben.“ Aber der Gedanke an das Verlassen des Klosters hat sich in den Köpfen der Frauen festgesetzt. Sie überlegen hin und her, und dann hat Katherina eine kühne Idee: „Wir fliehen dorthin, woher die neuen Gedanken kommen, von denen uns Magdalene erzählt hat, nämlich nach Wittenberg zu Martin Luther. Der hat uns Mut gemacht, ein neues Leben außerhalb des Klosters zu beginnen, und der wird auch einen Weg finden, wie das geschehen kann.“ Nach einigem Nachdenken stimmen die anderen zu, und so machen sich schließlich neun Frauen ans Pläneschmieden, wie die Flucht aus dem Kloster und der Beginn eines neuen Lebens draußen geschehen könnten.
Als Leonhard Koppe in den Tagen vor dem Osterfest wieder ins Kloster kommt, weihen sie ihn in ihre Pläne ein. Und der hilft mit seinen Ideen kräftig zum Gelingen bei. „Ich könnte euch auf meinem Wagen verstecken“, meint er. Und Elisabeth ergänzt: „In den Tagen vor Ostern gibt es so viel in Haus und Garten zu tun, da fällt es gar nicht auf, wenn einige von uns mal nicht an den Gebeten in der Kirche und an den Mahlzeiten teilnehmen“. „Gut“, meint Koppe, „ich bin gerne bereit, euch nach Wittenberg zu fahren“.
Und so geschieht es auch. Die Fässer und Kisten, in denen Koppe seine Waren hergebracht hat, sind leer. Geschäftig geht es im Kloster zu. Geschwind und unbemerkt klettern die neun Nonnen auf den Wagen und verstecken sich zwischen den Fässern, zum Teil steigen sie sogar hinein. Der Händler verabschiedet sich von der Äbtissin, mit einem lauten „Hü“ ziehen die Pferde den Wagen hinaus und auf dem rumpligen Weg vom Kloster weg. Eine Weile müssen sich die Frauen noch versteckt halten, dann hält Koppe an. Die Frauen tauschen ihre Nonnentracht gegen andere Kleider aus und Koppe erlaubt ihnen, es sich auf dem Wagen so gut wie möglich bequem zu machen. „Hier haben wir nichts mehr zu befürchten“, sagt er. „Die Leute hier stehen auf der Seite von Martin Luther“.
Die Fahrt auf dem Pferdewagen ist anstrengend und alle sind froh, als sie endlich in Torgau ankommen, dem Wohnort von Leonhard Koppe. „Wir können jetzt nicht weiterfahren“, meint er, „morgen ist ja das Osterfest“. „Und was ist mit uns?“ fragen die Frauen verunsichert, „nach Wittenberg ist es doch noch ein weiter Weg!“ Koppe beruhigt sie. „Ich habe auch eine Herberge. Da könnt ihr gut übernachten. Und dann sehen wir weiter.“ ‚Ja‘, denkt sich Katharina, ‚ein neues Leben zu beginnen, das ist gar nicht so einfach‘. Das eine waren die großen Fluchtpläne im Kloster, das andere sind die kleinen Pläne, wenn man Tag für Tag neu bedenken muss, wie es weitergeht.
Am Ostersonntag mischen sich die Frauen unter die festlich gestimmte Gemeinde. „Christ ist auferstanden“ singen sie jetzt nicht mehr im Nonnenchor, getrennt von der Gemeinde, sondern mittendrin. Bei den Gebete spricht Katharina still vor sich hin: „Guter Gott, du hast uns den ersten Schritt in unser neues Leben gelingen lassen. Lass uns bitte auch bei den nächsten Schritten nicht im Stich“. Und wie sie dann mit den anderen ihrer Klosterschwestern von der Kirche durch das Städtchen zurück zur Herberge geht, wandern ihre Gedanken hin zu der noch unbekannten Stadt Wittenberg: ‚Wie werden wir da wohl aufgenommen werden? Können wir dort wirklich bleiben? Und wo? Bei wem? War unser Fluchtplan vielleicht doch zu kühn?‘ Katharina merkt, dass den anderen wohl auch solche Gedanken durch den Kopf gehen, und sie reden darüber. ‚Wie werden uns die Leute in Wittenberg wohl anschauen, wenn sie wissen, dass wir entlaufene Nonnen sind? Kann diese Stadt wirklich für uns eine neue Heimat werden?‘
Das Osterfest ist vorbei und wieder sitzen die Frauen auf ihrem Gefährt unterwegs nach Wittenberg. In den Gesprächen geht es nur noch um ein Thema: Wie werden wir in dieser Stadt aufgenommen? Was wird dort wohl aus uns werden? Nach vielen Stunden, in denen sie es auf dem Wagen immer noch ziemlich unbequem hatten, tauchen endlich die beiden Türme der Wittenberger Stadtkirche auf. Nachdem sie angekommen sind, besorgt Koppe noch eine Unterkunft in einer Herberge, verabschiedet sich von den Frauen und fährt wieder heim nach Torgau. Da sind die ehemaligen Nonnen nun am Ziel ihrer Reise und wissen trotzdem noch nicht, wie es weitergehen soll.
Bei einem ersten Gang durch die Stadt fällt ihnen auf, dass hier wohl viele Zugereiste untergekommen sind. Sie hören es an den unterschiedlichen Dialekten, die sie sprechen. Viele junge Männer sind wohl Studenten an der Universität. In den Gesprächsfetzen, die sie mitbekommen, hören sie immer wieder die Namen der Personen, die das Leben in der Stadt bestimmen: Martin Luther, Philipp Melanchthon, Nikolaus Amsdorf und andere. Immer deutlicher erkennen sie: Jetzt sind sie wirklich an dem Ort, an dem all die neuen Gedanken und auch gedruckten Schriften entstanden, die sie dazu gebracht haben, das Kloster Nimbschen zu verlassen. Katharina flüstert Magdalene zu: „Ich bin mir jetzt sicher, dass diese Stadt das richtige Ziel unserer Reise ist.“ Und Magdalene antwortet: „Auch für viele andere ist es ein gutes Ziel geworden. Das spüre ich. Ich glaube, hier können wir uns wohlfühlen. Elisabeth meint neugierig: „Was meint ihr, ob wir bald Martin Luther selbst kennenlernen können?“
Nach der Rückkehr zur Herberge kündigt sich Besuch an. Der Pfarrer der Stadtkirche, Johannes Bugenhagen begrüßt sie in der Stadt und heißt sie willkommen. Er erklärt ihnen so manches zu den Personen, die ihnen beim Spaziergang aufgefallen sind. „Da sind die vielen Studenten aus ganz Deutschland und darüber hinaus, die hierhergekommen sind, um bei Luther und seinen Mitarbeitern die neue Lehre zu studieren. Auch etliche Priester sind hier, die sich der neuen Lehre zugewandt haben und deshalb aus ihren Heimatorten vertrieben wurden. Aber auch solche Pfarrer leben in der Stadt, die an ihren Orten der neuen Lehre zum Durchbruch verholfen haben und sich hier für ihre neuen Aufgaben guten Rat bei Luther und seinen Freunden suchen“.
Dann sagt er nach einer kleinen Pause und schaut dabei die Frauen ganz freundlich und respektvoll an: „Aber entlaufene Nonnen, das ist etwas Neues für uns.“. Er lacht und meint: „Da werden wir uns noch manches überlegen müssen, was euch zu einer guten Zukunft helfen kann“. Nachdem sich Bugenhagen verabschiedet hat, zeigen sich die Frauen gegenseitig ihre Erleichterung. Sie wissen, dass sich Menschen um sie kümmern werden, die ihnen wohlgesonnen sind. Aber zugleich bleibt die große Frage: Wie wird es weitergehen?
Gesprächsanregungen
- Was wäre für dich an einem Klosterleben wie in Nimbschen wohl besonders belastend gewesen?
- War es richtig, unter dem Eindruck von Luthers Schriften das Gelübde zur lebenslangen Klostergemeinschaft zu brechen? Was spricht dafür, was dagegen?
- Zur Entscheidung, das Kloster zu verlassen, war viel Mut nötig. Wo war deiner Meinung nach dieser Mut in besonderer Weise herausgefordert?
- Die Nonnen gaben die Sicherheit eines geordneten Klosterlebens auf. Was meinst du, wo sie diese Sicherheit auf ihrer Flucht besonders vermisst haben?
Weiter zu Teil 2 der Erzählung