Von dem erzählen, was Kinder bewegt
Erzählen für Kinder beginnt mit der Wahl von Hauptpersonen in der Geschichte, aus deren Sicht erzählt wird, mit denen sich die Kinder identifizieren können. Das müssen nicht Menschen im Kindesalter sein. Aber sie sollen Herausforderungen, Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen repräsentierten, die auch diejenigen der Kinder sind.
- Immer wieder geht es um herausgefordertes Vertrauen: die Personen der Geschichte treten aus der Geborgenheit heraus, sei es durch äußeren Zwang, Unachtsamkeit oder eigene Abenteuerlust und Neugier. Sie müssen sich in der raueren Wirklichkeit bewähren, um dann neu ihr Zuhause zu finden. Das sind die Abenteuer, die Kinder so lieben. Und wir erzählen davon, wie aufregend und auch anstrengend dies für die Person ist, mit welchen Gefühlen sie das Geschehen erlebt, wie Befürchtungen auch von Erwartungen und Hoffnungen begleitet sind. In Märchen begegnet uns dieses Grundmuster genauso wie in der Kinderliteratur und in den Harry-Potter-Romanen. In den biblischen Geschichten geht es zugleich um wichtige Erfahrungen mit Gott.
- Geschichten erzählen auch davon, wie kleine, unscheinbare Personen Beachtung finden und Größe gewinnen. Auch das gehört zur Lebenswirklichkeit der Kinder. So oft sind sie nur die Kleinen, denen noch nichts zugetraut wird. Aus interessanten Gesprächen bleiben sie ausgeschlossen, erfahren immer wieder solche Kränkungen. Das ist der Erfahrungshintergrund für Szenen, die dem biblischen Text vorangestellt werden. In ihnen erzählen wir davon, wie die Hauptperson unter solchen Kränkungen leidet, wie sie ihnen zu schaffen macht, und wie sie darauf hofft, dass das anders wird. Und dann geschieht im Namen Gottes das Andere und Neue, nämlich der Zuspruch, in dem die Hauptperson sich als vollwertiger Mensch in all seinen Potentialen und Möglichkeiten Ernst genommen fühlt.
- Auch um das Thema von Schuld und Vergebung, um den Umgang mit eigenen Grenzen, mit Fehlern und Versäumnissen geht es immer wieder. Kinder lieben Geschichten, in denen die Hauptperson sich irgendwie „daneben benimmt“, über die Stränge schlägt, Fehler macht. Gleichsam aus sicherer Distanz, in der ungefährlichen Rolle des Beobachtenden verfolgen sie dann mit, wie die Konflikte gelöst werden, wie sich die Beziehungen wieder entspannen. An ihrer Stelle übertritt die Hauptperson die gesetzten Grenzen. Und sie erleben mit, dass und wie die entstandenen Störungen wieder ausgeräumt werden können. Das ist ermutigend im Blick auf das eigene Umgehen mit Grenzen, zu dem doch auch Erfahrungen mit ihrem Überschreiten dazugehören.
Erzähl mir von Gott, heißt es im Blick auf biblische Geschichten. Das bedeutet, dass nicht bloß die äußeren Gegebenheiten und Umstände unser Hauptaugenmerk bei der Erzählvorbereitung und beim Erzählen selbst beanspruchen, sondern wie in erzählten Geschichten wichtige Erfahrungen mit Gott zum Vorschein, deutlich zur Sprache kommen. Wie können wir anschaulich machen, was von Gott her gilt? Da geht es um etwas, das der Person über den Glauben aufgeht, dessen sie sich im Selbstgespräch oder noch besser im Dialog mit anderen klar wird. Solche Gespräche führen zu den wesentlichen Botschaften der biblischen Geschichten. Der erzählenden Phantasie, mit der wir in den einzelnen Szenen die vorher bedachten Lebenserfahrungen der Kinder mit einfließen lassen, steht hier die theologische Verantwortung gegenüber, in der wir der besonderen Botschaft der biblischen Geschichten auf ebenso gut verständliche Weise den ihr gebührenden Raum geben, möglichst ohne schwer verständliche theologische Begriffe.
Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen, dem Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15), das wohl in keiner Kinderbibel fehlt. Von Gott ist im Gleichnis selbst noch gar nicht die Rede. Aber ich versuche eine deutende Verdichtung des Geschehens auf die Erfahrung mit Gott hin, die in diesem Gleichnis steckt. Aus diesem Grund kann mein Schaf reden – in einem Gleichnis erscheint mir das möglich. Und ich wähle dazu ein zentrales Bild in der Geschichte, das Schaf auf den Schultern des Hirten - übrigens das älteste Bild in der Geschichte der christlichen Kunst.
"Da bist du ja, du Ausreißer!" Der Hirte legt sich das Schaf auf seine Schultern. Das ist der angenehmste Platz auf der ganzen Welt. Das Schaf ist froh und glücklich. Es erzählt dem Hirten, wie allein es sich gefühlt hat: „Es war ganz schlimm, als ich so allein war, und ich habe so darauf gewartet, dass du mich findest! Aber irgendwie habe ich schon gewusst, dass du kommst. Aber mittendrin, da habe ich auf einmal große Angst bekommen, da habe ich plötzlich gedacht, ob du überhaupt gemerkt hast, dass ich fehle!“ Und der Hirte antwortet ihm: "Als du so viel Angst hattest, da war ich schon unterwegs. Ich bin von einem Hügel zum anderen gegangen und habe laut gerufen. Ich habe genau gewusst, dass ich dich finden werde!" Das kleine Schaf fragt immer wieder nach: "Als ich mich so alleine gefühlt habe, da warst du wirklich schon unterwegs zu mir?" Und der Hirte bestätigt das.
Nach einer Weile reckt das Schaf seinen Kopf ganz weit nach vorne zum Gesicht des Hirten und sagt: „Hast du wegen mir alle anderen alleine gelassen, nur um mich zu suchen? Du hättest ja auch sagen können: Ich darf die Herde nicht alleine lassen, ich muss bis zum Abend warten, bis die Herde den Pferch erreicht hat und versorgt ist. Erst dann kann ich mich auf die Suche machen!“ Bei diesem Gedanken fährt dem Schaf nachträglich wieder der Schreck durch die Glieder. Der Hirte meint: „Das hätte ich so machen können. Aber ich dachte mir: die anderen sind beieinander, und du bist ganz allein! Darum bin ich gleich losgegangen. Ich hatte nur ein Ziel: dich möglichst bald wieder zu finden. Was die anderen dachten, war mir ganz egal. Du warst mir wichtiger als alle anderen!“ – „Das war ein sehr guter Gedanke“, sagt das Schaf.